Die Verursacher sind viele: Unternehmen, Bundesagentur für Arbeit, Duales Berufsausbildungssystem
von Violetta Bock
Wenn in Unternehmen irgendetwas nicht rund läuft, wird sofort auf den vorgeblichen »Fachkräftemangel« verwiesen, als wäre das ein Naturereignis. Doch die Ursachen sind systembedingt und hausgemacht.
Im Juli waren in Deutschland offiziell 46 Millionen Menschen erwerbstätig, so viele wie nie zuvor. Das entspricht einer Quote von 77 Prozent aller Personen im Alter zwischen 15 und 65 Jahren. 35 Millionen von ihnen sind sozialversicherungspflichtig beschäftigt, doch arbeitet die Hälfte der erwerbstätigen Frauen, meist unfreiwillig, in unterbezahlter Teilzeit oder Minijobs. Gleichzeitig sind 3,5 Millionen Menschen erwerbslos bzw. unterbeschäftigt bei 750000 gemeldeten offenen Stellen.
2,5 Millionen junge Menschen zwischen 20 und 34 Jahren bleiben ohne eine abgeschlossene Ausbildung zurück. Der Ausbildungsmangel ist bis heute ein ständiger Begleiter junger Menschen.
Betriebliche Ausbildung
Wer meint, dass die Betriebe angesichts des »Fachkräftemangels« ihre Ausbildungsanstrengungen steigern würden, der täuscht sich, wie die Datenlage zeigt. Nicht einmal mehr jedes fünfte Unternehmen bildet hierzulande noch aus. So irrt wer denkt, wenn ein Betrieb einen hohen Fachkräftebedarf hat, müsste er besonders viel ausbilden. Dagegen spricht einmal, dass die Entscheidung für eine Ausbildung nicht nur vom Fachkräftebedarf, sondern von einer Vielzahl von Faktoren abhängt. Und zum anderen, und das ist die Generalthese: Wenn die Ausbildung einzelbetrieblich finanziert wird, will kein rational handelnder Betrieb die Kosten dafür übernehmen.
Der Fachkräftebedarf spielt für die Ausbildungsentscheidung eines Unternehmens nur eine untergeordnete Rolle. So bilden einerseits sehr viele Betriebe nicht aus, obwohl sie Fachkräftebedarf haben, während umgekehrt Betriebe ausbilden, obwohl sie keinen Fachkräftebedarf haben.
Im Jahr 2021 boten nur noch 19,1 Prozent aller Betriebe eine Berufsausbildung an. Die Ausbildungsbeteiligung ist seit Jahren rückläufig. Im Jahr 2007 belief sie sich noch auf 24,1 Prozent. Besonders niedrig ist sie in Berlin (11 Prozent) und im Wirtschaftszweig »Beherbergung, Gastronomie« (8,5 Prozent).
Die Bundesagentur für Arbeit
Nach der aktuellen Ausbildungsmarktstatistik der Bundesagentur für Arbeit (BA) gab es im letzten Berufsberatungsjahr 422.059 gemeldete Bewerber und 545.039 gemeldete Berufsausbildungsstellen. Dieser Angebotsüberhang von über 100.000 Ausbildungsstellen deutet auf den ersten Blick auf eine gute Ausbildungssituation hin. Doch Ende September 2023 waren noch 68.900 Stellen unbesetzt und 22.700 junge Leute unversorgt.
Bei genauerem Blick auf die Statistik wird deutlich, dass die wichtigste Zahl in der Ausbildungsmarktstatistik verschwiegen wird. Denn nur 201615 oder 48 Prozent der bei der BA bzw. der Berufsberatung gemeldeten Bewerber sind auch tatsächlich in eine Ausbildung »eingemündet«. Das heißt, nur weniger als die Hälfte der Bewerber für eine Ausbildung hatte das Glück, in diesem Berufsberatungsjahr einen Ausbildungsplatz zu erlangen.
Besonders benachteiligt sind dabei die ohnehin schon Benachteiligten: Jugendliche mit Hauptschulabschluss und aus »abgehängten Regionen« sowie Jugendliche mit Migrationshintergrund bzw. ausländischer Staatsangehörigkeit. Außerdem stecken jährlich über 220.000 junge Menschen in sog. Übergangsmaßnahmen zwischen Schule und Ausbildung fest.
Zweitens wird durch Zahlenspielchen die Zahl der »Unversorgten« nach unten gerechnet. Wenn 48 Prozent der Bewerber:innen einen Ausbildungsplatz erhalten haben, bleiben logischerweise 52 Prozent der Bewerber:innen ohne Ausbildungsplatz und müssen als »unversorgt« gelten. Doch in der Ausbildungsmarktstatistik werden nur 6 Prozent als »unversorgt« ausgewiesen, weil ganz willkürlich in dieser Statistik auch arbeitslose Jugendliche und solche in Warteschleifen – offiziell »Übergangsbereich« genannt – als »versorgt« erklärt werden. Dieser »Übergangsbereich« ist weitaus größer als in der Ausbildungsmarktstatistik erfasst.
Drittens wird versteckt selektiert. So wird sowohl die Zahl der Ausbildungsplätze beschönigt, als auch die Zahl der bei der BA gemeldeten Ausbildungsinteressierten nach unten gerechnet, indem nur diejenigen einfließen, die dem Kriterium der »Eignung« entsprechen. Schulabgänger:innen aus Haupt- und Realschulen gelten nur als »Ratsuchende« und fallen damit teilweise aus der Statistik.
All das dient dazu, die Ausbildungssituation zu beschönigen und von dem wichtigsten Indikator, der Zahl der Eingemündeten, abzulenken, die nur 48 Prozent beträgt.
Weiter verschlechtert sich das Bild, wenn man Altbewerber, also langjährige Bewerber, denjenigen aus berufsbildenden Schulen hinzuzählt oder die Unterschiede nach Staatsangehörigkeit und Postleitzahl auswertet.
Duale Berufsausbildung am Ende
Die duale Ausbildung wurde in Deutschland 1969 bundesweit einheitlich und unabhängig von der jeweiligen Branche im Berufsbildungsgesetz verankert. Die Ausbildung in diesem System erfolgt an zwei Lernorten: dem Betrieb und der Berufsschule. Das soll den jungen Menschen »lernortübergreifende Lernprozesse«, das duale Lernen ermöglichen.
Politik, Arbeitsverwaltung, Unternehmer und Gewerkschaften feiern das als Erfolgsmodell, doch laut Berufsbildungsreport der DGB-Jugend ist die Qualität der Ausbildung grottenschlecht. Der Ausbildungsabbruch ist über Jahre beständig gestiegen und betrug zuletzt 26,7 Prozent. Besonders hoch ist er bei Jugendlichen mit ausländischer Staatsangehörigkeit (35,3 Prozent) und Jugendlichen mit Hauptschulabschluss (38,5 Prozent).
Hinsichtlich der Zufriedenheit mit der Ausbildung gibt es erhebliche Unterschiede zwischen den Branchen: Industriemechaniker, Mechatroniker, Verwaltungsfachangestellte und Elektroniker für Betriebstechnik sind deutlich zufriedener als der Durchschnitt. Berufe aus dem Hotel- und Gaststättengewerbe, der Zahnmedizin, dem Einzelhandel und dem Friseurhandwerk bewerten ihre Betriebe und die Ausbildung dagegen als mangelhaft.
Systemwechsel erforderlich
Im Jahr 2023 bekamen nicht einmal 70 Prozent aller bei der Bundesagentur für Arbeit gemeldeten Jugendlichen einen Ausbildungsplatz. Nicht einmal mehr jedes fünfte Unternehmen bildet hierzulande noch aus. Auf der anderen Seite gibt es ein riesiges Potenzial an jungen Menschen, die keine Ausbildung finden. Über 220.000 Jugendliche stecken jedes Jahr in sogenannten Übergangsmaßnahmen zwischen Schule und Ausbildung fest, hinzu kommen über 2,3 Millionen junge Menschen im Alter zwischen 20 und 34 Jahren, die keinen Berufsabschluss haben. Diesen Menschen droht ein Leben in prekärer Beschäftigung, Arbeitslosigkeit und Armut.
Der Artikel ist die stark gekürzte Fassung eines Beitrags mit vielen Hintergrundinformationen auf der Seite gewerkschaftsforum.de vom Juli 2024.
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