Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 12/2024

Die Israelis haben das Vertrauen in Wirtschaft und Staat verloren, sagt Shir Hever
Aus einem Interview mit Shir Hever

Shir Hever ist in Israel geboren und aufgewachsen und lebt in Heidelberg. Er gehört zum Vorstand der ›Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost e.V.‹. Er schrieb zuletzt in SoZ 5/2024 über die deutschen Waffenlieferungen an Israel

Nachstehend veröffentlicht wir Auszüge aus einem Interview, das Shir Hever am 15.Oktober dem Online-Portal India Global gegeben hat.

Israel gilt als Beispiel für einen wirtschaftlich erfolgreichen Siedlerkolonialismus. Sie aber schreiben über den Zusammenbruch der israelischen Wirtschaft. Können Sie das erklären?

Israel war nicht immer so eine kapitalistische Wirtschaft wie heute. Man könnte es als ethnisch sozialistischen Staat bezeichnen: Sozialismus gab es nur für die jüdische, nicht für die palästinensische Bevölkerung.
In den 80er Jahren hat es massive Wirtschaftsreformen durchgemacht, es hat ein Strukturanpassungsprogramm befolgt, das, wie üblich, Privatisierungen bedeutete und den Konzernen freie Hand ließ. Damit hat der israelische Staat Instrumente, die ihm zuvor ermöglichten, mit einer Wirtschaftskrise umzugehen und einen Ausweg zu finden, aus der Hand gegeben.
Jetzt sagen Israelis: Die Regierung verschuldet sich, sie wird nicht in der Lage sein, die Schulden zu bezahlen, das bedeutet, die Bonität der Wirtschaft sinkt, die auf die Schulden zu zahlenden Zinsen steigen, die Währung verliert an Wert, Importe werden sehr teuer. Das behindert die Fähigkeit, Maschinen und Energie zu importieren, etwa Kohle. Es belastet alle Bereiche der Ökonomie. Die israelische Wissenschaft wird ihr Ansehen einbüßen, ihre Absolventen werden in der Welt nicht mehr geachtet.
Die erste Gruppe, die das Vertrauen in die israelische Wirtschaft verliert, sind die Israelis selbst. Wir haben die absurde Situation, dass globale Investoren meinen: Die israelische Wirtschaft befindet sich vielleicht in einer Krise, die ist aber nicht so schlimm, wie es aussehen mag, vielleicht erholt sie sich wieder. Deshalb denken sie daran, dort zu investieren, vielleicht Unternehmen zu kaufen, jetzt wo sie günstig zu haben sind, weil ihr Aktienkurs niedrig ist. Wenn es dann wieder aufwärts geht, werden die Gewinne sich schon einstellen. Die Israelis teilen diese Meinung aber nicht. Die wollen jetzt alles verkaufen und nichts wie raus hier.
Unter den gegebenen politischen Bedingungen kann ich mir nicht vorstellen, wie diese Krise zu lösen sein soll. Eine Erholung kann ich mir nur unter einem anderen politischen System vorstellen: ein Ende der Apartheid, die strafrechtliche Verfolgung der Kriegsverbrecher und damit die Aufhebung der Sanktionen. Nur dann lässt sich eine Wirtschaft wieder aufbauen, die rationalen und rechtsstaatlichen Grundsätzen folgt.

Ein Teil der Wirtschaftskrise hängt sicher mit dem Krieg zusammen, etwa der Rückgang der Investitionen, der Kreditwürdigkeit, des Tourismus usw. Warum meinen Sie, dass die Krise keine kurzfristige, eng an das Kriegsgeschehen gebundene ist? Warum wird es Ihrer Meinung nach keinen Aufschwung geben, wenn der Krieg aufhört?

Zunächst müssen wir uns fragen: Warum geht der Krieg nicht zu Ende? Wenn es wirklich den Glauben an eine wirtschaftliche Erholung nach dem Krieg oder auch nur nach einem Waffenstillstand gäbe, müsste das ja ein Ansporn sein, den Krieg zu beenden.
Aber das wird er nicht, weil die israelische Regierung das verhindert. Jeder Versuch, zu einem Waffenstillstand zu kommen, wurde von der israelischen Regierung torpediert. Die Regierung handelt nicht so, weil sie verrückt ist – was sie vielleicht ist –, sondern weil sie versteht, dass es keinen Aufschwung geben wird.
Denn ein Waffenstillstand würde die israelische Gesellschaft dazu zwingen, über ihre Lage nachzudenken, welche Grenzen überschritten wurden, welche Botschaft sie an die Welt senden möchte, was Israelis sind und was sie getan haben. Israelis sagen: Wenn es einen Waffenstillstand gibt, werden wir Wahlen haben, denn wir sind mit der Regierung nicht zufrieden. Und die Regierung wird die Wahlen wahrscheinlich verlieren, das sagen die Umfragen.
Wer aber wird die Wahlen gewinnen? Diese Frage möchte niemand wirklich angehen. Manche machen sich vor, es gebe eine Art Friedensbewegung in Israel, gemäßigtere und etwas linkere Menschen, die in der Lage wären, das Land wieder aufzubauen. Diese Menschen aber gibt es nicht. Es fällt mir schwer, das zu sagen, aber sie sind eine winzige Minderheit. Damit gewinnt man keine Wahl.
Aus der gebildeten Mittelschicht haben bereits viele das Land verlassen. Und die, die bleiben, sind nicht so gemäßigt, links und friedlich, wie man denkt. Der derzeitige Sprecher der israelischen Linken (die sich als solche bezeichnet) ist Yair Golan, ein ehemaliger General, ein Kriegsverbrecher, der Palästinenser als menschliche Schutzschilde missbraucht hat. Und jetzt sagt er, Israel solle einen Teil des Libanon dauerhaft besetzen. So stellt er sich den Frieden vor. Das ist die Alternative zur jetzigen Regierung.
Wenn das aber die Lage ist, über die niemand spricht, weil Krieg ist, weil jeden Tag Menschen sterben und die Wirtschaft im freien Fall ist, dann werden diese Dinge nicht verarbeitet, die Tragweite des Grauens nicht verstanden. Sobald es einen Waffenstillstand gibt, wird jedoch klar zutage treten, dass die israelische Gesellschaft einen Punkt überschritten hat, hinter den es kein Zurück gibt. Die demokratischen Kräfte der israelischen Gesellschaft sind vernichtet worden.
Ein irgendwie gearteter demokratischer Prozess wird nur möglich sein, wenn die Frage gestellt wird: Wer ist das Volk? Wer bildet die Mehrheit der Bevölkerung? Das sind Palästinenser, nicht Juden. Auch das ist eine Tatsache, die häufig ignoriert wird, vor der Menschen ihre Augen verschließen.
Ich sehe nicht, wie sich das Apartheidsystem erholen kann. Und die israelische Regierung weiß das. Deshalb erhält sie die Notsituation aufrecht, den Krieg auf unbestimmte Zeit, mit den Waffen, die sie von den USA bekommt, fortzusetzen.

Was bedeutet der Rückgang der Investitionen für den Staatshaushalt und für die Menschen?

Die wirtschaftliche Lage ist mit anderen Ländern nicht vergleichbar. Die ausländischen Investitionen sind seit Beginn des Krieges um 90 Prozent zurückgegangen. Pensionsfonds und Versicherungsgesellschaften haben über die Hälfte ihrer öffentlichen Investitionen ins Ausland verlagert, weil sie das Vertrauen in ihre eigene Wirtschaft verloren haben. Das Haushaltsdefizit ist außer Kontrolle geraten: Die israelische Regierung hat die Obergrenze der Verschuldung bereits dreimal gerissen, um weiter Waffen kaufen zu können. Einige davon werden auf Kredit gekauft.
Die Schulden steigen, auf verschiedenster Ebene. Israel gibt derzeit Anleihen mit einer Laufzeit von 20 Jahren aus – es muss verrückt sein, wer sowas kauft, sie werden niemals zurückgezahlt werden. Natürlich steigen die Zinsen darauf, fast schon auf das Niveau von Junk Bonds. Und die Regierung steckt in der Schuldenfalle, sie ist nicht einmal mehr in der Lage, den Schuldendienst zu finanzieren, sie muss Kredite dafür aufnehmen.
Nach dem 7.Oktober und dem Schock, den er ausgelöst hat, gab es zahlreiche Interviews und Podcasts, in denen sich Israelis gefragt haben: Wo war die Polizei? Wo war die Armee? Wo sind die Krankenhäuser, die sich um die Verletzten kümmern? Wo sind die sozialen Dienste, die dafür sorgen, dass Traumatisierte und obdachlos Gewordene versorgt werden? Wo ist der Staat?
Die Antwort ist: Es gibt keinen Staat. Wenn es aber in einer Zeit der Krise keinen Staat mehr gibt, dann gibt es auch keinen Gesellschaftsvertrag mehr. Das ist ein Vertrauensbruch, der nur sehr schwer wieder zu heilen ist. Und da die Regierung weiter lügt und mordet, kann Vertrauen auch nicht wiederhergestellt werden.

Was passiert im Handel – mit Waffen, natürlich, aber auch mit kritischen Rohstoffen?

Die ersten Länder, die realisiert haben, dass militärische Beziehungen zu Israel eine schlechte Idee sind, sind solche aus dem globalen Süden. Die israelische Rüstungsindustrie hat sehr enge Beziehungen zu diesen Ländern, insbesondere zu autoritären Regimen, die israelische Technologie nutzen, die Israel bereits an den Palästinensern erprobt hat, etwa um Bewegungsfreiheit zu unterdrücken, die eigene Bevölkerung rund um die Uhr zu überwachen. Diese Länder sagen jetzt: Es wäre tollkühn, jetzt einen Vertrag mit einem israelischen Rüstungsunternehmen zu schließen, wenn die Gefahr eines Zusammenbruchs besteht.
Die israelische Rüstungsindustrie hat deshalb sehr schnell nach dem 7.Oktober sehr viele Kunden verloren. Gleichzeitig aber sind ihre Aufträge in die Höhe geschossen, sie erhält sie jetzt von der eigenen Regierung. So kommt es zu der seltsamen Situation, dass der Aktienkurs eines Unternehmens wie Elbit Systems, Israels größtes Rüstungsunternehmen, sinkt, weil die Aktionäre keine Zukunft für das Unternehmen sehen, seine Umsätze aber steigen.
In den Ländern des globalen Nordens hingegen sorgt man sich um das Gesetz. Man fürchtet, in Schwierigkeiten zu geraten. In Großbritannien haben 600 Regierungsbeamten einen Brief geschrieben. Darin heißt es, ihre Aufgabe sei es, Waffenexporte nach geltendem Recht zu genehmigen. Sie wollen diese Aufträge aber nicht ausführen, weil sie sich damit eines Verbrechens strafbar machen können. Sie wollen ihren Job machen, nicht dafür ins Gefängnis gehen.
Dieser Brief hat der britischen Regierung einiges Kopfzerbrechen bereitet. Sie hat erklärt, sie werde die Exportgenehmigung für 30 Waffen aussetzen. Rechtlich gesehen sind aber alle Waffenexporte nach Israel illegal und müssen sofort eingestellt werden. Das gilt auch für den Import und den Transit von Waffen aus Israel. Den entsprechenden internationalen Waffenhandelsvertrag hat Israel unterzeichnet.
Die westlichen Regierungen sind vor allem um den Handel mit sog. Dual-Use-Gütern besorgt. Die Türkei hat den Export solcher Dual-Use-Güter nach Israel bereits verboten, was Israels Zugang zu schweren Baumaschinen beeinträchtigt. Kolumbien hat den Kohleexport nach Israel eingestellt. Israel ist jetzt auf die Verbrennung von Diesel angewiesen, was erheblich teurer ist. Auch diese Energie ist Dual Use, sie wird auch für militärische Zwecke verwendet. Und dann die Künstliche Intelligenz, mit der zehntausende militärische Ziele, Menschen, ins Visier genommen und getötet werden, und die sehr energieaufwändig ist…
Die israelische Regierung hat beschlossen, keine Infrastruktur mehr zu bauen, weil sie dafür Dual-Use-Güter bräuchte wie Stahl und Beton, die sie normalerweise aus der Türkei importiert. Sie investiert jetzt alles in den Krieg. Die israelischen Soldaten sagen, ihnen geht die Munition aus.

Nachzuhören auf www.youtube.com/watch?v=u7J2SA8U7Fk

Siehe auch Shir Hever: Die Politische Ökonomie der israelischen Besatzung. Köln: Neuer ISP Verlag, 2014.

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