Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 05/2014

«Nur die Menschen selbst können die Menschen retten»

von Jerôme Duval

Trotz der Behauptung der spanischen Regierung, der wirtschaftliche Aufschwung sei voll im Gange, gibt es in Spanien keinen Mangel an Gründen für Demonstrationen. Um nur einen Grund zu nennen: Laut einem Caritas-Bericht müssen derzeit 3 Millionen Menschen mit weniger als 307 Euro im Monat auskommen. Das sind doppelt so viele wie zu Beginn der Krise 2007.Die Verzweiflung über die zahllosen sozialen Ungerechtigkeiten ließ bei Aktivisten den Plan reifen, in langen Protestmärschen aus allen Teilen des Landes nach Madrid zu ziehen. Die «Märsche für Würde» starteten am 28.Februar. Sie richteten sich gegen die harten Einschnitte im Haushalt, die dramatische Verschlechterungen der Sozialleistungen zur Folge haben. In einem Manifest riefen die Märsche zur Mobilisierung gegen ein «unfaires System auf, das eine ungleiche Produktion und Verteilung von Reichtum zur Folge hat». Parolen wie «Brot, ein Dach über dem Kopf, und Arbeit für alle» oder «Wir sollten nicht arbeiten, wenn ihr nicht zahlt» fanden sich immer wieder auf den Transparenten der Demonstrierenden.

In den Dörfern und in Städten wurden die Marschierenden freundlich aufgenommen. Frust verwandelte sich in Aktion. Die berühmte Parole, die bei den erfolgreichen Aktionen gegen Wohnungsräumungen entstanden war, griff um sich: «Si, se puede» (Ja, man kann). Immer mehr Menschen schlossen sich den Märschen an, obwohl die Massenmedien darüber nicht berichteten und es am Tag der Ankunft der Märsche in Madrid vorzogen, sich lang und breit über den Tod von Adolfo Suárez, dem ersten Ministerpräsidenten nach Franco auszubreiten.

Nichtsdestotrotz wurden die «Märsche» eine gewaltige Mobilisierung. Mit dabei waren die 15M-Initiativen (der «Empörten») und die verschiedenen nachfolgenden Protestwellen – die «weißen» für die Kämpfe im Gesundheitswesen, die «grünen» für die im Bildungssektor, die «blauen» für jene, die gegen die Privatisierung des Wassers kämpfen, die «schwarzen», die gegen die Verschlechterung der Arbeitsbedingungen im öffentlichen Dienst und gegen Haushaltskürzungen mobilisieren und die «violetten», die für die Rechte der Frauen streiten.

Mit dabei war auch die Plattform (PAH) jener Menschen, die ihre Häuser nicht mehr abbezahlen können. Dazu kamen die rebellischen Rentner, die «yayoflautas» (Alten Flöten), die Parteien der Linken, «alternative» Gewerkschaften wie die Andalusische Landarbeitergewerkschaft SAT und Beschäftigte aus Betrieben, die sich gerade im Arbeitskampf gegen geplante Massenentlassungen und Werksschließungen befinden wie beim katalanischen Lebensmittelhersteller Panrico, Coca Cola oder bei der Feuerwehr in Madrid. Insgesamt hatten mehrere hundert Organisationen, soziale Bewegungen und Berufsverbände zu den «Märschen» aufgerufen.

Nervöse Reaktion

Anzumerken bleibt allerdings, dass die Führungen der großen Gewerkschaften CCOO und UGT durch Abwesenheit glänzten. Sie waren vermutlich gerade bei Gespräche bei ihren «Partnern»,  den Unternehmern oder der Regierung. Ein Foto der beiden Gewerkschaftsführer Ignazio Fernández Toxo (CCOO) und Candido Méndez (UGT), das sie im «sozialen Dialog» mit Ministerpräsident Rajoy und dem Chef des Unternehmerverbands CEOE, Juan Rosell, zeigt – just zu dem Zeitpunkt als die Märsche in Madrid eintrafen – ist symbolisch dafür. Der 22.März hat den Weg aufgezeigt, den es im Spanischen Staat einzuschlagen gilt.

Die «Märsche für die Würde» haben in der konservativen Regierungspartei PP für Unruhe gesorgt. Der Präsident der Gemeinde Madrid, Ignacio González, wagte die Bemerkung, eine Politik, die die Nachfrage ankurbelt und bei der Arbeitslosigkeit auf die Bremse tritt, sei der beste Weg, «die Würde der Spanier wiederherzustellen». Er verstieg sich aber auch zu der Behauptung, die Forderungen der Märsche fänden sich im Programm der griechischen Neonazipartei «Goldene Morgenröte» wieder. Der Schauspieler Willi Toledo, ein Teilnehmer der Märsche, entgegnete darauf, der Präsident, da er nun auf der Suche nach Faschisten sei, solle seinen Blick doch auf seine eigene Partei, die PP, richten, wo es von alten Franco-Anhängern nur so wimmle.

Am 22.März trafen die Märsche aus den verschiedenen Teilen Spaniens am Bahnhof Atocha zusammen, nahe dem Zentrum von Madrid: ein Zug aus dem Nordwesten: Asturien, Galizien, Kantabrien, Kastilien und León; aus dem Norden: La Rioja, dem Baskenland und Burgos; dem Nordosten: Aragón, Navarra und Katalonien; und die Züge aus dem Süden (Andalusien) und dem Westen (Estremadura und La Mancha). Die Menge war riesig, viele hundertausend. Nach Angaben der AG Öffentlichkeitsarbeit haben 754 Busse und vier Sonderzüge Kurs auf Madrid genommen.

Lange bevor die angemeldete Versammlung beendet war – auf dem Kolumbusplatz sang die «Solfonica», das Symphonieorchester der Bewegung 15M, noch den Chor der Gefangenen aus Verdis Nabucco – trat dann die Polizei in Aktion, stürmte den Platz und räumte gewaltsam das provisorische Camp der Märsche.

Die Massenmedien taten ihr Bestes, die zutiefst friedliche Bewegung als gewalttätig zu diskreditieren. Dabei wurden hunderte von Demonstranten bei den Zusammenstößen verletzt, 17 Menschen wurden ins Krankenhaus eingeliefert und 29 wegen angeblicher «Angriffe auf Beamte und Vandalismus» festgenommen.

Die «Märsche für die Würde» sind für Millionen Menschen im Spanischen Staat zu einem zentralen Bezugspunkt geworden – für alle, die monatelang an ihrer Vorbereitung gearbeitet haben wie für diejenigen, die am Ende in Madrid waren.

Quelle: www.cadtm.org.

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