von Angela Huemer
Der junge Schmied Nazaret holt seine Zwillingstöchter von der Schule ab. Er fragt die Lehrerin, wie sie sich denn so machen und erfährt, dass es mit der Geografie ein wenig hapert. Er fragt die Töchter nach der Hauptstadt Frankreichs, nun ja, wenigstens eine der beiden weiß die Antwort. Ein Kranich fliegt über sie hinweg und Nazaret erklärt seinen Töchtern, dies sei ein Vorbote für eine lange Reise, wer einen Kranich sieht, so sagt man, wird eine lange Reise unternehmen. Vielleicht unternehmen sie ja gemeinsam diese Reise, fügt er noch hinzu.Das Leben von Nazaret und seiner Familie in der ostanatolischen Stadt Mardin ist idyllisch (zu Beginn des Films sehen wir dankenswerterweise eine Landkarte und knapp die historische Ausgangslage). Als Zuschauer befürchtet man kurzzeitig, Fatih Akin würde hier trotz aller Mühe die Tücken von historischen Filmen doch nicht ganz meistern und man eben doch sieht, dass hier Masken- und Kostümbildner am Werk waren. Doch bald ändert sich alles und die Bedenken verfliegen, weil man als Zuschauer in den Film hineingezogen wird.
Nachts holen türkische Gendarme Nazaret und die anderen wehrfähigen Männer der armenischen Großfamilie, es ist Krieg, der Erste Weltkrieg. Doch anstatt an die Front werden sie zur Zwangsarbeit, zum Straßenbau eingeteilt. Eine karge Umgebung und ganz harte Arbeit. Sie haben kaum genug zu essen. Flüchtlinge ziehen vorbei. Irgendwann werden sie zur Konvertierung aufgefordert, einige tun es und werden freigelassen. Die anderen bleiben auf der Baustelle. Am Morgen scheinen die Türken verschwunden zu sein. Das ist jedoch nur die Ruhe vor dem Sturm. Die Türken kommen wieder, es gibt ein Massaker, das nur schwer anzuschauen ist, man denkt unwillkürlich daran, was man über diese Region gerade fast täglich in den Nachrichten sieht.
«Es ist eine seltsame, erschreckende Synchronisation der Bilder», sagt Fatih Akin in der Sendung Tischgespräch auf WDR5, als er darauf angesprochen wird, dass einige Szenen seines Films The Cut an die aktuellen Geschehnisse gemahnen, von denen wir derzeit hören – die Köpfungen und Gräueltaten des IS. «Die Traumata, die vor hundert Jahren dort entstanden sind, und zwar nicht nur der Völkermord an den Armeniern, sondern alle Massaker und Kriegsschauplätze rund um den Ersten Weltkrieg herum und das willkürliche Grenzenziehen der Siegermächte. Im Nahen Osten ist es leider versäumt worden, diese Traumata aufzuarbeiten und deswegen wiederholen sich die Ereignisse von vor 100 Jahren.»
Akin schickt seine Hauptfigur, grandios gespielt von Tahar Ramin, über die ganze Welt, von Kuba bis in die USA. Nazaret überlebt, er verliert aber seine Stimme. Das funktioniert trotzdem, weil Fatih Akin in Bildern erzählt und durch Orte und Landschaften führt. Es sind beeindruckende, karge Landschaften, wobei sich die karge Kälte des Nordens der USA und die Wüste am Anfang des Films fast ähneln.
Der Film war eine Herkulesaufgabe und bislang Akins größtes Projekt. Gedreht wurde in Malta, Jordanien, Kuba, Kanada und in deutschen Studios. Wie sonst auch hat Fatih Akin den Film geschrieben, produziert und Regie geführt – mit einigen Ko-Produzenten. Akin hat einen instinktiven, sicheren Zugang zum Filmemachen. Er erzählt die Geschichte seines Mannes, der sein verlorenes Leben wieder finden möchte – zumindest seine Töchter. Die Dimension des Völkermords wird spürbar, der Film bleibt aber zu Recht auf einer individuellen, persönlichen Ebene. Akin meint im Interview, ein Film, der den Völkermord nur annähernd beleuchtet und erzählt, müsste eine Dokumentation mit mindestens zwölf Folgen sein.
Bei der Kritik kam der Film nach seiner Premiere in Venedig nicht so gut an – ein Novum für Fatih Akin, Jg. 1973, der bereits ein erstaunliches Oeuvre vorweisen kann. Vermutlich waren die Kritikererwartungen an den Film auch angesichts des Themas viel zu hoch.
Die Rezensentin kann die Bedenken nicht teilen und schließt sich dem SWR-Kinokritiker Herbert Spaich an, der anmerkt, dass schon viele Ausnahmewerke bei ihrer Premiere durchgefallen sind; The Cut misst er filmgeschichtlichen Rang bei. Ich empfehle, den Film selbst anzusehen, um sich ein Urteil zu bilden. Er ist in jedem Fall ein ganz besonderes Kinoerlebnis.
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