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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 04/2016

Erstes Gipfeltreffen der Bewegungen des Willkommens, der Solidarität und des Antirassismus, Leipzig, 10.–12.Juni 2016
dokumentiert

Seit einigen Monaten hat sich ein Initiativkreis «Welcome2Stay» gebildet, er besteht aus Aktiven verschiedener Solidaritätsgruppen, aus der Plattform Recht-auf-Willkommen, aus Bürgerrechtsorganisationen, der Rosa-Luxemburg-Stiftung, dem Umfeld der Partei Die LINKE, aus Organisationen der sozialen Bewegungen wie Attac, der Interventionistischen Linken und aus verschiedenen Zusammenhängen in Leipzig wie linxxnet u.a.

Die Initiative lädt die Helferbewegung in all ihrer Verschiedenartigkeit ein, sich auf einem «Gipfeltreffen» in Leipzig über die Probleme, auf die sie stößt, auszutauschen und gemeinsame Strategien zu entwickeln. Es ist der bisher breiteste Ansatz, die Helferinnen und Helfer aus ihrer Isolierung zu holen und der Bewegung damit die Möglichkeit zu geben, auch eine politische Dimension zu entwickeln.

Nachstehend veröffentlichen wir daher den Aufruf zum «Gegengipfel».*

Wer wir sind

– Wie machen wir unsere Solidarität und unser Willkommen so hörbar, dass es die Vorurteile, den Hass und die Hetze übertönt?

– Wie halten wir die Verschärfung des Asylrechts und die Abschottung der Grenzen auf? Was tun gegen den Rassismus in der Gesellschaft und den Institutionen?

– Wie kommen wir zu einer solidarischen Gesellschaft mit Wohnraum, Bildung, Gesundheitsversorgung und Zukunftsperspektiven für alle?

Wir sind viele, Hunderttausende, vielleicht Millionen. Wir haben geklatscht und Willkommensgeschenke verteilt, als im September die ersten Züge mit Geflüchteten in Erfurt, München, Frankfurt und vielen anderen Orten ankamen. Wir haben Menschen in unseren Autos mitgenommen, manchmal über Grenzen hinweg. Wir haben unsere Wohnungen geöffnet, Unterkünfte organisiert, Unmengen von Tee gekocht, Essen verteilt und warme Kleidung besorgt. Wir beraten und vermitteln beim Kontakt mit Behörden und Institutionen. Wir suchen Wege, damit Menschen gut ankommen oder gut weiterkommen, dorthin, wo sie es möchten. Wo immer Menschen ohne Versorgung gelassen werden, ob an den Zäunen und Grenzen der Balkanroute, an den Erstaufnahmeeinrichtungen oder an den Hauptbahnhöfen, haben wir, so gut wir es konnten, dieses staatliche Versagen aufgefangen und versucht, eine humanitäre Katastrophe zu verhindern.

Wir sind viele und wir sind ganz unterschiedlich. Wir sind Lehrerinnen, die unentgeltlich Deutschkurse geben. Wir sind Ärzte und Krankenpflegerinnen, die Menschen ohne Papiere behandeln, Anwälte, die versuchen die Rechte von Geflüchteten durchzusetzen. Wir sind Hartz-IV-Empfänger oder Rentner, die viel Zeit investieren können, um zu organisieren, zu helfen, zu handeln. Wir sind selbst Migranten, sprechen die Sprachen derer, die jetzt kommen, übersetzen und hören die Geschichten vom Krieg, von der Zerstörung, der lebensgefährlichen Flucht, den Misshandlungen, der Angst.

Wir sind erst seit wenigen Monaten aktiv oder engagieren uns schon seit Jahren und Jahrzehnten in der antirassistischen Bewegung, bei den selbstorganisierten Initiativen von Geflüchteten oder ihren Supportern. Wir sind selbst Geflüchtete, erst seit kurzem in Deutschland und unterstützen jetzt jene, die nach uns kommen, ihre Ziele zu erreichen und ihre Rechte wahrzunehmen.

Wir sind viele und wir haben viele Gründe, zu tun, was wir tun. Wir tun, was getan werden muss, weil wir Menschen sind und in einer menschlichen Gesellschaft leben wollen. Wir tun es, weil wir eine Festung Europa ablehnen, vor deren Mauern die Menschen ertrinken. Wir tun es, weil wir nicht in einem Land leben wollen, das Schutzsuchende aussperrt, abschreckt und möglichst schnell wieder loswerden will. Wir tun es, weil dieses Land Veränderung braucht und es gut ist, wenn die Dinge in Bewegung kommen. Wir tun es, weil Solidarität eine Beziehung zwischen Menschen ist, die sich bei aller Verschiedenheit als Gleiche begegnen: gleich an Würde und gleich an Rechten.

Was soll der Gipfel?

Oft stoßen wir in unserer Solidaritätsarbeit an Grenzen, Grenzen unserer Leistungsfähigkeit, aber auch äußere Grenzen: Hausordnungen, Verordnungen, Gesetze, Zäune. Fassungslos müssen wir mit ansehen, dass, während wir die praktische Solidarität organisieren, in Deutschland und in ganz Europa Asylgesetze verschärft werden und dass die Grenzen, die im September so wunderbar offen waren, schrittweise wieder geschlossen werden. Wir nehmen wahr, dass Angst, Abwehr und Stimmungsmache die Diskussion in Medien und Politik beherrschen. Es entsetzt uns, dass angeblich besorgte Bürger gegen Unterkünfte in ihrer Nachbarschaft mobil machen und beinahe jeden Tag Häuser in Brand gesteckt werden, während Polizei und Justiz die Geflüchteten entweder nicht schützen können oder nicht schützen wollen.

Wir sind viele, Hunderttausende, vielleicht Millionen. Aber wir sind zu leise, zu sehr damit beschäftigt, das unmittelbar Notwendige zu tun. Warum sind wir kaum in der Lage, gemeinsam unsere Stimme zu erheben? Wir sind lokal oft gut vernetzt und organisiert, aber auf der bundesweiten Ebene fast unsichtbar. Das wollen und müssen wir ändern:

Deswegen laden wir ein zum ersten Gipfeltreffen unserer Bewegungen vom 10. bis 12.Juni in Leipzig.

Wir wünschen uns, dass Menschen aus den vielen Willkommensinitiativen, Solidaritätsgruppen, Selbstorganisationen von Geflüchteten, aus den antirassistischen und antifaschistischen Gruppen und Netzwerken und aus den zivilgesellschaftlichen Organisationen nach Leipzig kommen.

Lasst uns zusammenkommen, unsere Erfahrungen austauschen, uns ermutigen und voneinander lernen.

Geplant sind zwei Tage des Austauschs und der gemeinsamen Diskussion. Dazu gibt es drei Leitfragen, die in den Gesprächen mit Aktivisten und Helferinnen immer wieder aufgetaucht sind:

– Die rechtliche und materielle Situation von Geflüchteten verschlechtert sich immer weiter – was können wir dagegen tun? Wie halten wir die Verschärfung des Asylrechts und die Abschottung der Grenzen auf?

– Wie machen wir unsere Solidarität und unser Willkommen so hörbar, dass es die Vorurteile, den Hass und die Hetze übertönt? Was tun gegen den Rassismus in der Gesellschaft und den Institutionen?

– Wie kommen wir zu einer solidarischen Gesellschaft, in der nicht Freiwillige das Versagen des Staates abfangen müssen? Was können wir tun, damit wir nicht beim Helfen stehenbleiben, sondern gleichzeitig Wohnraum, Bildung, Gesundheitsversorgung und Zukunftsperspektiven für alle durchsetzen?

www.welcome2stay.org

* Das Programm des Gipfeltreffens sowie alle Informationen zu Tagungsort, Anreise, Unterbringung usw. findet sich auf www.welcome2stay.org. Kontakt: mail@welcome2stay.org.

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