von Leo Gabriel
Die meisten Venezolaner sind des teilweise blutigen Machtkampfs zwischen dem amtierenden Präsidenten Nicolás Maduro von der Vereinigten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV) und dem rechten Parteienbündnis «Tisch der Demokratischen Einheit» (MUD) überdrüssig. Sie wollen eine möglichst baldige politische Lösung des Konflikts.
Venezuela stand am Beginn der sogenannten «rosa Welle» Lateinamerikas in den 2000er Jahren, in deren Verlauf in mehreren Ländern sozialdemokratische bis sozialistisch orientierte Parteien die Regierung übernahmen. Als der ehemalige Offizier und Aufständische Hugo Chávez 1999 die Präsidentschaftswahlen gewann, wartete er zunächst mit einem damals noch recht bescheidenen sozialen Reformprogramm auf, das die große Kluft zwischen arm und reich nur ansatzweise überbrücken konnte.
Der traurige Höhepunkt der sozialen Polarisierung war der sogenannte «Caracazo» im Februar 1989 gewesen, das war ein mehrtägiger Volksaufstand gegen ein vom Internationalen Währungsfonds (IWF) ausbedungenes Austeritätsprogramm, das die damalige Regierung des Sozialdemokraten Carlos Andrés Pérez ohne Rücksicht auf Verluste durchsetzte: Bis zu 3000 Todesopfer forderte die Niederschlagung des Aufstands. Die Elite des Landes, aufgeteilt in zwei sich regelmäßig in der Regierungsführung ablösende Lager, hatte das Land durch jahrzehntelange Veruntreuung der Erdöleinnahmen wirtschaftlich wie politisch in den Abgrund geführt.
Dies war der Hintergrund für den kometenhaften Aufstieg des damaligen Armeeangehörigen Chávez, der 1992 mit einem Putschversuch gegen die Regierung Pérez gescheitert war, sich aber bald zu einem nationalen Hoffnungsträger entwickelte und nach seiner Wahl zum Präsidenten zu einer ernsthaften Gefahr für die Eliten des Landes wurde.
Das Reformprojekt von Chávez
Die Oligarchie wehrte sich mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln dagegen, den gewohnten Erdölsegen abzugeben, und inszenierte im April 2002 mit US-amerikanischer Rückendeckung einen Staatsstreich gegen den in der Bevölkerung wie auch in der Armee zunehmend populären Präsidenten. Nun verschärfte Chávez die Gangart: Der dominierende Erdölkonzern PDVSA wurde nach einem längerem Machtkampf verstaatlicht und der Ressourcenreichtum erstmals der Bevölkerungsmehrheit zugänglich gemacht: Die Sozialausgaben stiegen signifikant, die Armutsrate fiel zwischen 2002 und 2012 von 49 auf 22 Prozent, Kindersterblichkeit und Unterernährung sanken auf historische Tiefstwerte.
Auch die politische Kultur begann sich zu ändern: Gewalt und Korruption hatten zur tiefgreifenden Entfremdung der Bürger von den Regierenden geführt. Latinobarómetro, eine etablierte chilenische Non-Profit-Organisation, die kontinentweit jährlich Befragungen zu Demokratie, Wirtschaft und Gesellschaft durchführt, konnte im Laufe von Chávez’ Regierungszeit eine bemerkenswerte Zunahme des politischen Interesses und des Systemvertrauens feststellen.
Eine konstituierende Nationalversammlung erarbeitete 1999 eine neue Verfassung, die den Bürgern mehr Spielraum gab, um die Regierenden zur Verantwortung zu ziehen: So wurde die Möglichkeit geschaffen, in der Mitte der Legislaturperiode Referenden zu ihrer Abwahl durchzuführen.
Diese Errungenschaften wirkten nicht mäßigend auf die Opposition. Der Verlust ihrer Privilegien schmerzte sie so sehr, dass sie sich vor allem im Ausland bemühte, das Bild eines sozialistischen Unrechtsregimes zu propagieren. Nicht zuletzt gab Chávez selbst, ein Mischling aus ärmlichen Verhältnissen, eine ideale Zielscheibe für die rassistischen Ressentiments der traditionellen Eliten ab.
Auf halbem Weg steckengeblieben
Der mangelnde gesellschaftliche Zusammenhalt wurde vor allem durch die Persönlichkeit von Chávez hergestellt, was bis zu einem gewissen Grad im Widerspruch zum emanzipatorischen Anspruch seiner Regierung stand. Auch die Effizienz seiner Regierung ließ zu wünschen, weil im Kabinett in Ermangelung einer gewachsenen Diskussionskultur nicht das entsprechende Vertrauensklima hergestellt werden konnte.
Auch die mehrmaligen Versuche von Chávez, die Wirtschaft ein stückweit aus ihrer Erdölabhängigkeit zu befreien, scheiterten an der polarisierten gesellschaftlichen Situation, und der Kampf gegen die allgegenwärtige Korruption im Staatsapparat kam nicht vom Fleck. Die Situation wurde eher noch schlimmer, der Bürokratismus nahm zu, die Armeespitze wurde mit Versorgungsposten ruhig gestellt und schließlich mussten verschiedene Wechselkurse als Mechanismus zur Krisenbekämpfung eingeführt werden.
Erst im Vorfeld der Präsidentschaftswahl von 2006 verkündete Chávez den «Sozialismus des 21.Jahrhunderts» als Ziel seiner Regierung. Er wetterte regelmäßig gegen den Kapitalismus, beließ aber einen Großteil der Wirtschaft in privaten Händen. Der Staatssektor war ausgeweitet worden, und es gab interessante Experimente in der Selbstverwaltung der Arbeiterinnen und Arbeiter, doch die herrschende Klasse hatte ihren Reichtum weitgehend behalten und eine neue Elite – die sogenannte «Bolibourgeoisie» – hatte begonnen, ihre Position zu festigen.
Die Erblast
Als Chávez 2013 seinem längeren Krebsleiden erlag, hinterließ er seinem designierten Nachfolger Nicolás Maduro eine wachsende politische Polarisierung. Als sich dann 2014/2015 auch noch die Weltmarktpreise für Erdöl praktisch halbierten, schränkte die hohe Exportabhängigkeit von diesem einen Rohstoff schlagartig den Haushaltsspielraum ein, die zuvor erfolgten hohen Kreditaufnahmen – insbesondere bei China – in der Erwartung weiterhin hoher Rohölpreise taten ihr Übriges.
Fast noch größere Schwierigkeiten bereitete Maduro jedoch das ererbte System fester Wechselkurse und Preiskontrollen. In den frühen 2000er Jahren war das die Antwort auf die ökonomische Sabotage der von Unternehmerkreisen dominierten Opposition gewesen, führte aber zunehmend zu falschen Anreizen. Wer Zugang zu Dollars zum Präferenzpreis hatte, konnte diese auf dem Schwarzmarkt mit einem riesigem Aufschlag verkaufen. Die gleichen Anreize kamen bei Nahrungsmitteln, Medizin und anderen Waren des Grundbedarfs ins Spiel, was den von der Opposition angezettelten Boykott der größtenteils importierten Waren noch einträglicher machte. Als Folge davon stellte sich eine Hyperinflation ein, die bis heute andauert.
Da konnte Maduro noch so lautstark den «Wirtschaftskrieg des US-Imperiums» gegen seine Regierung anklagen: Solange er das im Grunde genommen linksliberale System nicht antastete, hielt er die Tore zur Plünderung des Staatshaushalts bei gleichzeitiger Verschlechterung der Versorgungslage für die Bevölkerung offen. Überhaupt blieb Maduro seit seinem Amtsantritt keine Zeit, grundlegende Reformen voranzutreiben. Wahrscheinlich zögerte er, die korrupten Interessen der «Bolibourgeoisie» herauszufordern.
So flüchtete sich ein schwacher Präsident angesichts eines zusehends komplizierten innen- und von den USA außenpolitisch unterstützten Bedrohungsszenarios in zunehmend autoritäre Maßnahmen. Bei den Präsidentschaftswahlen 2013 wurde er nur knapp bestätigt, im Dezember 2015 verlor seine Partei die Mehrheit im Parlament. Seither regiert Maduro mit Notverordnungen und mit Hilfe eines willfährigen Obersten Gerichtshofs, der noch schnell vor der Konstituierung des neuen Parlaments von der alten chavistischen Mehrheit personell neu besetzt wurde.
Die Eskalation
Am 30.März dieses Jahres folgte der nächste Paukenschlag: Der Oberste Gerichtshof entmachtet das Parlament und setzt sich selbst als Gesetzgeber ein! Die Vorgeschichte dazu bildet ein seit der Wahl 2015 anhängiger Streit. Der Gerichtshof hatte die Wahl von drei oppositionellen Abgeordneten wegen Unregelmäßigkeiten annulliert, womit die Opposition unter die bedeutsame Zwei-Drittel-Mehrheit gerutscht wäre. Das Parteienbündnis MUD ignoriert das Urteil und bestätigt die drei Abgeordneten – eine vom Standpunkt der Gewaltenteilung einmalige Entscheidung.
Die Entscheidung wird zwar zwei Tage später auf Druck des Auslands und der «Bitte» Maduros zurückgenommen, doch der Gerichtshof ist nun endgültig als Anhängsel der Regierung bloßgestellt. Eine neuerliche Protestwelle auf den Straßen lässt sich nicht mehr aufhalten und erreicht immer neue Dimensionen. Erstmals regen sich auch im chavistischen Lager kritische Stimmen, die auf das Ende der Gewalt und einen politischen Dialog drängen, den die Opposition bis dato allerdings verweigert.
Allen voran sprach die inzwischen abgesetzte Generalstaatsanwältin Luisa Ortega Díaz von einem Verfassungsbruch. Dasselbe Urteil fällt sie über Maduros nächstes Projekt: die Einsetzung einer Verfassunggebenden Versammlung. Die umstrittene Wahl dazu wurde Ende Juli abgehalten. Die Opposition verweigerte ihre Teilnahme, weil angeblich die Wahlkreise so zugeschnitten worden wären, dass eine chavistische Mehrheit sicher erschien. Die behauptete Wahlbeteiligung von 41 Prozent wird angesichts der Stimmung im Land vielfach angezweifelt, ebenso das vom MUD durchgeführte, völlig unkontrollierte Plebiszit gegen den Verfassungskonvent zwei Wochen zuvor.
Welche Lösung?
Seit Anfang April hat die Protestwelle über 130 Todesopfer und 3500 Verletzte gefordert. Mehr als 1000 Verhaftungen wurden vorgenommen. Dabei gehen die meisten Toten auf das Konto der Opposition, die – mit modernen Präzisionswaffen ausgerüstet – einen Kampf um die von ihr kontrollierten Territorien führt. Auch die aus Kolumbien eingeschleusten Paramilitärs, deren Zahl zwischen 30000 und 40000 liegt, spielen bei den Straßenkämpfen eine nicht unwesentliche Rolle. Eine im Ausland von der UNO durchgeführte Einzelfalluntersuchung hat ergeben, dass mehr als ein Drittel der Todesfälle ihre Ursache in oppositionelle Ausschreitungen haben.
Auch die Versorgungslage spitzt sich weiter zu, obwohl die Regierung inzwischen monatlich billige Pakete mit Grundnahrungsmitteln an die Bevölkerung verteilt. Die Rezession und eine Inflation um die 700 Prozent haben die Gehälter pulverisiert. Rund 1,5 Millionen Venezolaner, vor allem aus der Mittelschicht, haben das Land in den letzten zwanzig Jahren verlassen. Die Arbeitslosigkeit hat epidemische Ausmaße erreicht.
Angesichts der Not ist es erstaunlich, dass sich die Bevölkerung nicht noch stärker den Protesten der Opposition anschließt. Das ist vor allem auf den wachsenden Widerstand gegen die vom MUD vorangetriebene Gewalt zurückzuführen. Die überwiegende Mehrzahl der Venezolaner spricht sich für eine politische Lösung aus. Aus diesem Grund hat sich z.B. die Führung der sozialdemokratischen Acción Democrática vor kurzem vom rechtsextremen MUD losgesagt, was diese wiederum dazu bewogen hat, sich an den von Dezember auf September vorverlegten Gouverneurswahlen zu beteiligen.
Zu wünschen wäre, dass ein politischer Dialog wie ihn die Mehrzahl der Chavistas, aber auch viele Oppositionelle anstreben, möglichst bald stattfinden könnte. Die bisherigen Vermittlungsbemühungen sowohl des ehemaligen spanischen Ministerpräsidenten Zapatero als auch des Vatikans sind an der Forderung der Opposition nach einem Rücktritt Nicolás Maduros gescheitert. Selbst unter den alten Anhängern des Chavismus gibt es viele, die Maduros Abtritt akzeptieren würden, wenn dadurch das Land befriedet und dringend notwendige Reformen angegangen werden könnten.
Ob die soeben gewählte Verfassunggebende Versammlung, die Maduro selbst als «die oberste Gewalt im Staate» bezeichnet, eine solche Lösung herbeiführen kann, wird davon abhängen, ob es ihr gelingt, sich von den derzeit im Amt befindlichen Hardlinern in der Regierung zu lösen und zu jenem relativ autonomen, parteiunabhängigen Gefüge der venezolanischen Zivilgesellschaft zu werden, als das sie sich der Öffentlichkeit vorgestellt hat.
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