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Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 11/2017

…zum «Sozialismus des 21.Jahrhunderts
von Catherine Samary*

Nicht jede Vergangenheit hat dieselbe Zukunft. Der Oktober 1917 wird nicht leicht beerdigt werden können. Da wurde gewagt, die bestehende Ordnung in Frage zu stellen – ohne Rezepte und nicht ohne tragische Irrtümer, im Kampf mit den Kriegen und der sozialen Gewalt der Herrschenden. Hundert Jahre später, obwohl der Kommunismus nicht mehr als Option erscheint, ähneln die Herausforderungen doch denen des Oktober vor hundert Jahren.

Die damals von den Menschewiki vertretene These, man müsse erst eine kapitalistische Entwicklung mit ihren gesellschaftlichen und demokratischen Fortschritten abwarten, denn sie würden den Sozialismus vorbereiten, wird heute, wo die Sozialdemokratie zum Neoliberalismus übergegangen ist, von niemandem mehr vertreten. Der Kapitalismus hat sich erneut globalisiert, in einem bislang unerreichten Ausmaß, was die Vorstellung von einem «Sozialismus in einem Land» undenkbarer macht denn je, wenn natürlich auch aller Widerstand im jeweiligen Land verankert sein muss.

Seit den 80er Jahren entfaltet sich ein «dritter Weltkrieg», der für die Gesellschaften und die natürlichen Lebensgrundlagen katastrophal ist und keinerlei demokratische Wahlfreiheit lässt, wie dies Margaret Thatcher mit «TINA» («There Is No Alternative» – «Es gibt keine Alternative») ausgedrückt hat. Die Widerstandsbewegung, die namentlich in Chiapas entstanden ist und sich seit den 90er Jahren in zahlreichen Netzwerken gegen die neue kapitalistische Globalisierung organisiert hat, hoffte darauf, «die Welt zu verändern, ohne die Macht zu ergreifen». Die Kämpfe, die darauf angelegt sind, den Kapitalismus «aufzubrechen», sind vielfältig: sie reichen von der Open-Source-Bewegung über die «Regel-Cities», die Kämpfe von Via Campesina bis hin zur Kommune von Rojava, die sich an den Vorstellungen von Murray Bookchin orientiert. Wir haben aber auch die Rückkehr etatistischer und «linkspopulistischer» Konzepte erlebt, ebenso den Aufruf von Hugo Chávez, einen «Sozialismus des 21.Jahrhunderts» zu denken.

Man muss neu nachdenken, wie man diese Welt verändern kann, ohne die Gefahr einer  fremdenfeindlichen Systemkritik zu unterschätzen oder in die bürokratischen Irrwege der Vergangenheit zurückzufallen. Man muss also die Bilanz der Fortschritte und Rückschläge des «sowjetischen Jahrhunderts» ziehen und dabei einen Trumpf ausspielen: den Vorteil des Rückblicks, der erlaubt, nicht nur die Gefahren der inneren und äußeren bürgerlichen Konterrevolution gegen die Bewegungen für die Überwindung der kapitalistischen Verhältnisse zu ermessen, sondern auch die der Bewegung selbst inhärenten bürokratischen und etatistischen Risiken, die Gestalt annehmen, wenn sie nicht bewusst bekämpft werden.

 

Was bedeutete Selbstverwaltung?

Die Revolution von 1917 bezog ihre Kraft aus einer beeindruckenden Mobilisierung «von unten» (in den Betrieben und auf dem Lande) und aus aufkeimenden Formen der Volksmacht «von oben» – spätestens mit dem Auftauchen der Soldatenräte, vermittelt über diese knüpfte sich das Bündnis der Arbeiter mit den Bauern. Die Bolschewiki haben nicht mit abstrakten Aufrufen zur «Revolution» oder zum «Sozialismus» die Mehrheit in den Räten und in den Betriebskomitees gewonnen, wo sie die Eroberung der Macht organisiert und ihr Legitimität verschafft haben, sondern indem sie die Macht der Sowjets als die einzige Alternative zur Konterrevolution präsentieren konnten, denn diese Einschätzung entsprach der gelebten Wirklichkeit. «Alle Macht den Räten» bedeutete konkret, wie die ersten Beschlüsse der Räte zeigen, soziale Rechte, die Errichtung der Arbeiterkontrolle in den Betrieben und die Übergabe des Bodens an die, die ihn bebauen.

Darum war die Februarrevolution nicht einfach nur antizaristisch und «bürgerlich-demokratisch»: Auch ohne sich als «sozialistisch» zu bezeichnen, war sie doch mit ihrer Mobilisierung der Arbeiter und Bauern, deren Bündnis sich in den Soldatenräten knüpfte, zutiefst «antibürgerlich-demokratisch».

Die wichtigste Differenz zwischen Bolschewiki und Menschewiki betraf in dieser Zeit nicht die Parteikonzeption, sondern die strategische Orientierung, verbunden mit der Haltung zum Krieg. Die Menschewiki setzten auf das Bündnis mit Strömungen, die sie für «bürgerlich-demokratisch» hielten, während die Bolschewiki sich auf die Mobilisierung und die Sowjets der Arbeiter und Bauern stützten und deren Rechte gegen den imperialistischen Krieg und die kapitalistische Weltordnung verteidigten.

Auf die Sabotage der Unternehmer antworteten die Arbeiterinnen und Arbeiter, indem sie an ein ihnen geläufiges ländliches Modell anknüpften: Die Vollversammlung der Beschäftigten im Betrieb entsprach der überkommenen dörflichen Selbstverwaltung des Mir oder Artel, den Ältestenräten ähnelten die Fabrikräte. Ein Betriebskomitee wandte sich an das andere wie ein Dorf an ein anderes. Diese Arbeiter wollten in ihrem Betrieb das Sagen haben, so wie sie urteilten, dass der Boden denen gehören sollte, die ihn bearbeiten. Sicherlich war diese Selbstverwaltung desto wirksamer, je kleiner der jeweilige Betrieb war. In den Großbetrieben, die aufgrund ihres Gewichts an die Spitze der Bewegung traten, war das viel weniger der Fall. In diesen hielten die Beschäftigten die Selbstverwaltung für utopisch und zogen die Arbeiterkontrolle vor, ein System, in dem sie die Rolle von Wächtern spielten. Das würde sie vor missbräuchlichen Entscheidungen und gegen Entlassungen schützen – wobei die Forderungen nach Selbstverwaltung und Verstaatlichung angesichts von Aussperrungen durch die Unternehmensleitungen jederzeit aktuell werden konnten.

 

Das Scheitern der Selbstverwaltung

Die Bolschewiki waren in den Betriebskomitees populär, weil sie die Arbeiterkontrolle gegen die Sabotage der Unternehmer und die Orientierung der Menschewiki betonten. Doch sie misstrauten der Selbstverwaltung und auch bestimmten Formen der Arbeiterkontrolle, insoweit sie ihnen als anarchistisch, chaotisch und «egoistisch» erschien. Neben pragmatisch durchaus vernünftigen Gesichtspunkten gab es da bei Lenin und vielen Marxisten jener Zeit auch fragwürdige theoretische Überzeugungen, denen zufolge die Kapitalkonzentration und die mit ihr verbundene «wissenschaftlich fundierte Arbeitsorganisation» den «Sozialismus» vorbereitete. Die Verstaatlichung würde dabei die Anarchie des Privateigentums und des kapitalistischen Markts beseitigen und eine technisch-rationelle Nutzung der Ressourcen erlauben.

Die Bolschewiki waren praktisch davon überzeugt, dass die Übernahme der Fabriken durch den «Arbeiterstaat» der entscheidende, die Ausbeutung beseitigende Faktor sei. So empfanden die meisten Aktiven, mit Ausnahme der Anarchisten. Und in dieser Logik musste die auf die Betriebskomitees gestützte Arbeiterkontrolle nach der bolschewistischen Machtübernahme die Verwaltungsangelegenheiten mehr und mehr den überbetrieblich organisierten Gewerkschaften überlassen.

Dabei scheiterte die Selbstverwaltung, aber nicht wegen der Haltung der Bolschewiki. Die Vorschläge der Anarchisten waren in den Fabrikkomitees schon vor dem «Kriegskommunismus» sehr minderheitlich, auch vor dem «tragischen Irrtum» der Repression von Kronstadt und dem Verbot der anderen Parteien und der Fraktionen in der Partei. Die Logik der Selbstverwaltung in den einzelnen, voneinander getrennten Betrieben stieß auf die Sabotage der Unternehmer und geriet auch in Konflikt mit dem objektiv gegebenen Bedürfnis nach landesweiter Organisation der Produktion – vor allem in Hinblick auf die Rohstoffbeschaffung und die Organisation des Transports. Darum schlossen sich 1917 viele Anarchisten den Bolschewiki an und stritten sich wie letztere über die einzuschlagenden Optionen angesichts der Schwierigkeiten beim Übergang von der Logik des «Kampfes gegen» zur Logik des Aufbaus einer anderen Gesellschaft.

Das Scheitern der Selbstverwaltung ging mit dem Zusammenbruch der Wirtschaft einher. Die Arbeitenden sammelten sich hinter der Losung der Verstaatlichung unter Arbeiterkontrolle, weil sie für den Kampf gegen das Kapital am besten geeignet zu sein schien. Da sie mit vielen Maßnahmen gegen die Unternehmer und zugunsten der Belegschaften verbunden war, wurde sie als Sieg der Revolution empfunden und war es in diesem Sinne auch.

Doch zugleich verschob sich die Macht von der Arbeiterklasse selbst hin zu denen, denen sie vertraute und die in ihrem Namen sprachen. Wie Rosa Luxemburg, obwohl sie den Oktober glühend unterstützte, dies früh gespürt hatte, drehten sich die Einschränkungen der Demokratie, vorgenommen in der Absicht, die Konterrevolution zu bekämpfen, mit der Zunahme einer Stellvertreterpolitik gegen die Revolution selbst. Solche Erscheinungen gibt es auch in Bewegungen, Netzwerken und Zusammenschlüssen, die sich von Parteien abgrenzen, in denen aber führende Kerne faktisch ihre Normen und Entscheidungen «im Namen» der Basis durchsetzen.

 

Von der Selbstverwaltung zur Selbstregierung

Diese Art von Fehlentwicklungen können gemeinschaftlich reflektiert und überwunden werden. Die jugoslawische Krise Ende der 60er Jahre hatte die Kritik der Entfremdung von der Selbstverwaltung gleichzeitig durch den Markt und durch den eins gewordenen Partei- und Staatsapparat auf die Tagesordnung gesetzt. Es wurden Vorschläge gemacht, die die Selbstverwaltungsdemokratie mit einer Planung in Übereinstimmung bringen wollten, die die sozialen und nationalen Rechte respektieren würde: Demnach sollten die übergreifenden Planvorgaben von den Selbstverwaltungsorganen selbst entwickelt werden, es sollte «Selbstverwaltungskammern» auf verschiedenen territorialen Ebenen geben, die die Vorgaben umsetzen sollten, es sollten Interessengemeinschaften von Konsumenten und Produzenten entwickelt werden, die gemeinsam bestimmte Güter und Dienstleistungen verwalten sollten, wie etwa Krankenhäuser, Verkehr usw.

Die Rechte der Selbstverwaltung darf man nicht nur für einzelne Produktionseinheiten definieren, sondern muss dies für den ganzen territorialen Zusammenhang tun, überall wo sich die «assoziierte Arbeit» und die «gesellschaftliche Aneignung der Ressourcen» organisiert und Entscheidungen nach solidarischen Kriterien fällt.

Die zentrale Koordinierung stünde dann nicht etatistisch «über» den sich selbstverwaltenden Arbeitern, sondern unter ihrer demokratischen Kontrolle. In einem solchen Raum kann eine «politische Ökonomie der frei assoziierten Arbeiter» als Produzenten wie als Konsumenten, als Bürger, Männern und Frauen verschiedener Nationalitäten die «gesellschaftlich notwendige Arbeit» bestimmen – zur Befriedigung der als wesentlich erachteten Bedürfnisse.

Hinter der «Doppelherrschaft» von 1917 steckte auch ein «Doppelrecht», das legale Recht der Besitzenden und das von unten in den Kämpfen verteidigte Recht der Besitzlosen, mit gegensätzlichen Maßstäben für die «Effizienz». In gewisser Weise ist das heute auch so: Die Suchbewegung der «politischen Ökonomie der Arbeiter» drückt sich keimhaft in den Forderungen nach Rechten und nach sozialen und ökologischen Kriterien aus, die von den Herrschenden nicht respektiert werden. Eine der Möglichkeiten, dieses «Doppelrecht» sichtbar zu machen, ist die Losung nach Offenlegung der Bücher und die praktische Organisierung einer gesellschaftlichen Kontrolle über die Geschäftsbücher und Korrespondenz der Unternehmen, die Entlassungen oder Betriebsschließungen vornehmen. Dasselbe gilt für die Verschuldung der öffentlichen Haushalte, mit der die Herrschenden Arbeitsplatzabbau und die Einschränkung von Rechten begründen.

Wie 1917 können sich aus dem Kampf gegen Entlassungen und Kapitalflucht Formen der defensiven Selbstverwaltung und Forderungen nach Vergesellschaftung unter öffentlicher Kontrolle entwickeln. Sie werden zunächst instabil und ihr Bestand von einer feindlichen kapitalistischen Umgebung bedroht sein. Um sich zu verstetigen und kohärent zu agieren, werden sich diese keimhaften Formen demokratischer Kontrolle von unten koordinieren müssen, damit sie Gewicht erlangen. Dieser Kampf muss auf allen Ebenen geführt werden, wo das Kapital versucht, seine Regeln aufzuzwingen – um den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen und die Aufhebung aller Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnisse durchzusetzen.

 

* Die Autorin ist aktiv in Attac France und schreibt über Fragen der Selbstverwaltung

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