Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 05/2021

‹Ihr habt gefälligst euer Handy anzumachen, auch nachts›
von Gerhard Klas

Depressionen und Burnout sind in der Sicherheitsbranche nicht unüblich. Für die Arbeit gibt es zwar Regeln, doch die Unternehmer halten sich nicht daran.

«Ich bin 63 Jahre und bewache den Eingang einer großen Brauerei in NRW», erzählt ein Betriebsrat aus der Sicherheitsbranche, der seinen Namen lieber nicht nennen will. «Nacht- und Tagdienste, morgens um vier geht der Wecker, um halb sechs muss ich da sein.» 12-Stunden-Schichten, mit An- und Abfahrt werden daraus knapp 14 Stunden. Viel Freizeit bleibt da nicht mehr. Harte Arbeitsbedingungen und niedrige Löhne sind üblich in der Sicherheitsbranche. Und eine feindliche Haltung der meisten Arbeitgeber gegenüber der betrieblichen Interessenvertretung der Beschäftigten.
Die Branche ist in den vergangenen Jahrzehnten enorm gewachsen: 260000 Beschäftigte Ende 2019 – Anfang der 1990er Jahre waren es weniger als 70000.
Während der Corona-Krise sind zwar einige Arbeitsplätze weggefallen – vor allem in nichttarifgebundenen Unternehmen, die oft Ordnerdienste für Großveranstaltungen, Konzerte und Fußballspiele stellen. Aber es sind auch neue entstanden: Zum Beispiel stocken einige Kommunen ihre Ordnungsämter mit privaten Dienstleistern aus der Sicherheitsbranche auf. Und auch Supermärkte kommen nicht ohne Sicherheitsleute aus, die darauf achten, dass Kunden die Hygienebestimmungen einhalten.
Bereits im April 2020 hatte der Arbeitgeberverband gefordert, für diese neuen Stellen nur den Mindestlohn zu zahlen, weil die Branche durch die Corona-Pandemie Verluste hätte hinnehmen müssen. Dabei gelten in allen Bundesländern Tarifverträge, die eine Bezahlung über dem Mindestlohn vorsehen.
Vor allem die Einrichtung der Flüchtlingsunterkünfte habe zum jüngsten Schub in der Branche geführt, so Harald Olschok, Hauptgeschäftsführer des Bundesverbands der Deutschen Sicherheitswirtschaft (BDSW), dem größten Arbeitgeberverband der Branche. «Unser Umsatz ging 2015, 2016 um 40 Prozent nach oben, zeitweise waren bis zu 10 Prozent aller privaten Sicherheitskräfte in den Flüchtlingsunterkünften beschäftigt.» Der Trend setzte sich fort: Die Umsätze der Branche liegen seitdem bei knapp zehn Milliarden Euro jährlich.

Die Branche hat einen schlechten Ruf
Aber seitdem hat die Branche auch ein Imageproblem. Einige Sicherheitskräfte, die eigentlich die Bewohner von Massenunterkünften vor Angriffen schützen sollten, entpuppten sich als rechte Schläger und Sadisten. Die Bilder von misshandelten Asylbewerbern in einer Unterkunft in Burbach sorgten 2014 international für Empörung. Als der Fall bekannt wurde, habe man sofort gehandelt, so der Hautgeschäftsführer.
Der BDSW handelte wenige Tage später mit dem zuständigen Innenministerium Kriterien für die Auftragsvergabe zum Schutz von Flüchtlingsunterkünften aus. Unter anderem werden sämtliche Mitarbeiter durch Polizei und Verfassungsschutz überprüft und müssen eine Sachkundeprüfung gemäß der Gewerbeordnung der Industrie- und Handelskammer ablegen – das sind zehn Tage Unterricht, Kenntnisse über andere Kulturen und Deeskalationstechniken werden dort nicht vermittelt. Entlohnt wird nach Tarif, Subunternehmen werden nicht eingesetzt. Und: Bedingung für einen Auftrag ist die Mitgliedschaft der Sicherheitsfirma im BDSW.

Wen interessieren Kriterien?
Der Ver.di-Gewerkschaftssekretär Andreas Rech, zuständig für die Wach-und Sicherheitsbranche in NRW, betrachtet vor allem das Kriterium der Mitgliedschaft im Arbeitgeberverband nicht als Gütesiegel für ein Sicherheitsunternehmen. Eher als Geschäftsmodell.
«Deswegen sind viele Aufträge an BDSW-Unternehmen gegangen», so Rech, «aber die hatten nicht genug Leute, auch das größte Unternehmen findet nicht auf einen Schlag hundert qualifizierte Mitarbeiter.» Über Facebook hätten diverse Unternehmen Stellen ausgeschrieben. «Da wurde nicht nach Qualifikation gefragt, da wurde nicht einmal gefragt, ob die Leute schon im Sicherheitsgewerbe tätig sind, einzig und allein: bringt schwarze Kleidung mit.» Viele der BDSW-Unternehmen hätten auf Subunternehmer zurückgegriffen.
Regelmäßig organisiert Rech im Essener Gewerkschaftshaus Treffen mit Betriebsräten und mit Kolleg:innen, die einen gründen wollen. Viele gibt es in der Branche noch nicht. Die schlechten Arbeitsbedingungen trotz offiziell gültigem Tarifvertrag kommen immer wieder zur Sprache, und der Gerichtsprozess zu den Vorfällen in Burbach, der immer noch nicht abgeschlossen ist, lenkt die Aufmerksamkeit der Gewerkschafter:innen immer wieder auf die Arbeitssituation in den Flüchtlingsunterkünften.
Ein besonders eklatanter Fall aus Bochum hatte für viel Aufregung gesorgt: Monatelang erhielten knapp 120 Beschäftigte überhaupt keinen Lohn mehr. «Die Stadt Bochum hatte Aufträge an ein Mitgliedsunternehmen des BDSW vergeben, die Rheinischen Sicherheitsdienste, die wiederum haben den Auftrag komplett an ein Subunternehmen weitergegeben, und dieses Subunternehmen hat weitere Unternehmen unter Vertrag genommen», beschreibt Rech.
Das war zwei Jahre, nachdem die zwischen dem BDSW und dem Innenministerium ausgehandelten Kriterien in Kraft waren. Ver.di intervenierte, es kam zu Verhandlungen vor dem Arbeitsgericht. Die Beschäftigten gingen dennoch leer aus. Das Gericht sei nicht in der Lage gewesen nachzuweisen, «wer denn jetzt der Arbeitgeber von diesen Beschäftigten ist», so Rech.

Organizing
Gemeinsam mit zwei Kollegen ist Rech zuständig für mehr als 50000 Beschäftigte in NRW. Besonders bei der allgemeinen Bewachung sei es schwer, mit den Beschäftigten überhaupt in Kontakt zu kommen. Deshalb hat Rech 2014 das Netzwerk Wach- und Sicherheitsdienste NRW, kurz WASI, aufgebaut. Es ist vor allem eine Internet- und Facebookseite, über die Beschäftigte sich informieren, Kontakt mit Andreas Rech aufnehmen und ihm ihre Probleme am Arbeitsplatz schildern.
Unterbezahlte Überstunden, Lohnentzug bei Krankheit, zu niedrige tarifliche Einstufung – solche Beschwerden stapeln sich bei Rech, seit er die Internetseite eingerichtet hat. WASI NRW ist Beschwerdestelle, Kontaktbörse und Plattform, um neue Mitglieder zu gewinnen. Fast alle waren mal Quereinsteiger: aus dem Handwerk, aus dem Einzelhandel, auch ehemalige Akademiker sind dabei. Unzählige Überstunden und permanente Rufbereitschaft sind keine Seltenheit. «Ich habe schon 320 Stunden bei mir auf dem Schreibtisch gehabt zur Bearbeitung», so Rech.

Der Alltag in Flüchtlingsheimen
Auch Abdul Ansari nimmt regelmäßig an den Treffen in Essen teil. Er hat in mehreren Flüchtlingsheimen gearbeitet, die vom Sicherheitsdienstleister Stölting, einem Hauptsponsor des Fußballbundesligaclubs Schalke 04, bewacht werden. Er will seinen richtigen Namen nicht öffentlich nennen, zu groß ist die Sorge, deshalb von seinem Arbeitgeber bestraft zu werden. Bei Stölting Security gibt es keinen einzigen Betriebsrat, und in der Reinigungssparte hatte Stölting schon Kopfprämien von 50 Euro ausgelobt, wenn Beschäftigte aus der Gewerkschaft austreten.
«Das grenzt schon an Burnout, die Leute, die können einfach nicht mehr, wir haben Mitarbeiter, die immer noch 240 Stunden arbeiten», erzählt Ansari. In der Freizeit gelte eine faktische Rufbereitschaft. «Wir werden angerufen oder per Whats-app oder SMS benachrichtigt, ob wir nicht einspringen können», so Ansari. Das Mobiltelefon müsse immer an sein: «Ihr habt gefälligst euer Handy anzumachen, auch nachts.»
Vertreter des Familienunternehmens behaupten, besonders die Beschäftigten in Flüchtlingsheimen gut zu bezahlen. Aber Ansari berichtet, dass viele Kollegen tariflich vereinbarte Leistungen nicht erhalten. «Leute, die krank sind, müssen ihren Stunden hinterher rennen, weil die Krankheitstage bei der Entlohnung nicht berücksichtigt werden.»
Konflikte jedenfalls gehören zum Alltag in den Flüchtlingsheimen. Auch Abdul Ansari weiß davon zu berichten. Dreißig Prozent seiner Kollegen hätten wir er Migrationshintergrund – das stelle bei Konflikten einen Vorteil dar, weil man eher Zugang zu den Bewohnern hätte. Aber manchmal kommen er und seine Kollegen auch damit nicht weiter.
Abdul Ansari erzählt, dass auch er schon öfter mal mit Kratzern und blauen Flecken nach Hause gekommen ist. Nicht alle Kollegen kämen mit der Situation klar: Die Mischung aus unberechenbaren Situationen in den Flüchtlingsheimen, wo viele verschiedene Ethnien auf engstem Raum und ohne Perspektive zusammenleben müssten, und der Druck des Arbeitgebers, der den Beschäftigten Unmenschliches abverlange, habe einige Kollegen nicht nur in die Depression und zum Psychiater getrieben. «Sie entladen ihre Wut an den Schwächeren – und das sind die Flüchtlinge», so Ansari.
Ein verbindliches Bewacherregister und ein Sicherheitsdienstleistungsgesetz werden die Situation kaum verbessern. Der Arbeitgeberverband drängt darauf, dass letzteres noch in dieser Legislaturperiode in Kraft treten soll, so wie im Koalitionsvertrag vereinbart. Der BDSW will darin ein faktisches Streikverbot für verschiedene Sektoren der Sicherheitsbranche durchsetzen. Seine Begründung: Schutz kritischer Infrastruktur.
Das wird der Arbeitgeberwillkür weiteren Spielraum geben, befürchtet Andreas Rech. Der Gewerkschaftssekretär würde am liebsten die in der Branche üblichen sachgrundlosen Befristungen der Arbeitsverhältnisse abschaffen und härtere Sanktionen gegen Arbeitgeber einführen, die Betriebsratsgründungen verhindern.
Auch Abdul Ansari hätte gerne einen Betriebsrat. Und will weiter in der Sicherheitsbranche arbeiten. «Ich mag meine Arbeit, weil ich die Möglichkeit habe, Flüchtlingen zu helfen», sagt er. Er könne nicht nur einige Sprachen verstehen, sondern auch viele ihrer Probleme, weil er selbst vor vielen Jahren mit seiner Familie aus Zentralasien geflüchtet sei. «Ich weiß, dass man eine schwierige Anfangsphase hat», erklärt der Mittdreißiger, der vorher als Verkäufer gearbeitet hat. «Mir gefällt es, mit den Leuten zu kommunizieren, ihnen mit Rat und Tat zur Seite zu stehen.»

WASI NRW hat die Webseite: https://wasi-nrw.de/.

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