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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 06/2022

Der russische Krieg zielt auf die Industriegebiete in der Zentralukraine
von Sebastian Gerhardt*

Putin will mehr als nur den Donbass. Er braucht die ukrainische Industrie.

Mit dem Rückzug der russischen Angreifer aus den Gebieten nördlich von Kiew werden die Orte brutaler Kampfhandlungen und einer Vielzahl von Verbrechen an der Zivilbevölkerung zugänglich. Schon zuvor war klar, dass die russische Aggression tausende Zivilisten das Leben gekostet hat.

Es beginnt eine Diskussion über die Aufklärung und den Charakter dieser Verbrechen.
Doch der Krieg ist noch nicht vorbei. Mit der Erklärung über den Rückzug im Norden hat der russische Generalstab am 25.März zugleich neue Angriffe im Osten der Ukraine angekündigt. Vorerst müssen sowohl der Regimechange wie die Eroberung Kiews und Charkiws zurückgestellt werden. Plan A und Plan B sind gescheitert. Nun ist die russische Propaganda zum vermeintlichen Ausgangspunkt des Krieges zurückgekehrt: der Abtrennung der Gebiete Donezk und Luhansk von der Ukraine. Tatsächlich ging es darum nie. Die russische Führung zielt nicht auf eine Teilung der Ukraine. Ihr geht es nur um einen Umweg, alle eigenen Ziele zu erreichen.

Falsche Rechtfertigungen und echte Kriegsziele
In Putins Rede zur Anerkennung der sog. Volksrepubliken Donezk und Luhansk spielten genau diese Gebiete und der Konflikt um den Donbass nur die Rolle eines Aufhängers für eine prinzipielle Abrechnung mit der Ukraine, den vermeintlichen Fehlern Lenins und dem ewig feindlichen Westen. Ein Aufhänger, mehr nicht. Schon 2014 hatte sich der Kreml nicht besonders beeilt, die Separatisten in der Ostukraine zu unterstützen. Ein ehemals wichtiges, traditionelles Industriegebiet hatte nicht das strategische Gewicht der Krim mit dem Haupthafen der Schwarzmeerflotte und Öl- und Gasfeldern vor der Küste. Dazu lebt in der Ostukraine eine weit größere Bevölkerung, die nicht so einfach auf russisches Rentenniveau gehoben werden kann.
Doch der Separatismus im Osten der Ukraine hatte für die russische Führung durchaus einen Gebrauchswert. Der andauernde Konflikt bildete eine offene Flanke der Ukraine. Eine nachhaltige Destabilisierung des Landes konnte einen Zugang zu ganz anderen Objekten der Begierde öffnen.
Die Westerweiterung der russischen Einflußsphäre um die Republik Belarus ist militärisch interessant, aber wirtschaftlich wie politisch eher eine Belastung. In der Ukraine geht es dagegen um ganz konkrete Ziele. Putin zählte einige von ihnen auf, als er am 21.Februar 2022 zynisch den Niedergang der ukrainischen Industrie beklagte:

Russische Kriegsziele: Die Industrie…
2021 wurde die Schiffswerft in Nikolajew liquidiert, Katharina II. hatte dort die ersten Werften gegründet. Der berühmte Konzern «Antonow» hat seit 2016 keine Flugzeuge mehr gebaut. Das Werk «Jushmasch», spezialisiert auf Raketen und kosmische Technik, steht vor dem Bankrott, genauso wie das Stahlwerk in Krementschug. Diese traurige Liste ließe sich deutlich verlängern.
Zu Zeiten der Sowjetunion entfielen auf die Ukraine etwa 15 Prozent der sowjetischen Rüstungsproduktion. Und die Rüstungsproduktion war der modernste Teil der sowjetischen Industrie. Im Dezember 2013 wollte der russische Präsident Putin seinem Amtskollegen Janukowitsch die Ablehnung des Assoziierungsabkommens mit der EU durch einen Kredit in Höhe von 15 Milliarden Dollar erleichtern. Kurz darauf sandte sein Rüstungsspezialist Dimitri Rogosin ein weiteres Angebot: Bis zu 10 Prozent der russischen Rüstungsausgaben könnten in die Ukraine fließen.
Rogosin flog in die Ukraine. Die ersten Stationen seines Besuches waren die Firma Jushmasch und das Konstruktionsbüro Jangel in Dnjepropetrowsk. Hier wurden einst die größten sowjetischen Interkontinentalraketen entwickelt und produziert, die SS-18/R36M «Satan». Keine andere Rakete kann bis heute mit ihrer Reichweite und Traglast mithalten.
Selbst im Kernbereich der nuklearen Abschreckung war Russland bis 2014 auf Techniker und Ersatzteile aus dem Nachbarland angewiesen, zumal zwei weitere in Russland produzierte Interkontinentalraketen (SS-19, SS-25) Steuerungssysteme aus Charkiw verwenden. Zusammen machen die drei Raketentypen heute knapp 50 Prozent des russischen strategischen Nukleararsenals aus. Ähnlich sah es im zivilen russischen Weltraumprogramm aus. Die modernste zivile Trägerrakete Zenit wurde in Dnjepropetrowsk gefertigt – bis zur Beendigung der Zusammenarbeit im Jahr 2017.

…der Zentralukraine
Der traditionsreiche Hersteller der sowjetischen Transportflugzeuge, die Firma Antonow, befindet sich in Kiew. Gerade für schwerste Transportflugzeuge hat die Firma praktisch ein Monopol. Die Firma MotorSitsch aus Saporoschje entwickelt und produziert Turbinen für moderne Militärhubschrauber und zivile Flugzeuge. In Mykolajiw am Schwarzen Meer wurde ein Großteil der sowjetischen Seekriegsflotte gebaut. Dort konnten Schiffe bis zu 180000 Tonnen Wasserverdrängung gebaut werden. Auch für kleinere Schiffe sind die Gasturbinen aus Mykolajiw kaum ersetzbar.
Gerade beim Aufbau der internationalen Waffe par excellence, der Hochseeflotte, wäre ein Zugriff auf die ukrainischen Ressourcen viel billiger als die Entwicklung eigener Kapazitäten. Dabei geht es nicht nur um teure Maschinen und Anlagen, die eingekauft werden könnten. Die entsprechenden Erfahrungen, das Produktionswissen, wird aber nicht mitgeliefert.
Nach dem Zerfall der Sowjetunion hatte die Moskauer Führung den eigenen Einfluss zunächst mit zivilen Mitteln zu sichern versucht. Doch diese Mittel waren und sind beschränkt. Denn der postsowjetische Beutekapitalismus verstand sich wohl auf den Ausverkauf vorhandener, nicht aber auf die Produktion neuer Reichtümer – weder in Russland noch in der Ukraine. Nach dem Scheitern der zivilen Zusammenarbeit und der weniger zivilen Erpressung setzt der Kreml seit 2014 auf eine gewaltsame Neuaufteilung des Erbes der Sowjetunion. Eine Besetzung allein des Donbass, der Gebiete Donezk und Luhansk, macht dabei keinen Sinn: die lohnenden Kriegsziele finden sich erst weiter westlich.

Russischer Imperialismus gestern und heute
Nach 2014 sahen manche postsowjetische Marxisten in Moskau in der gedrosselten Hilfe für die «Volksrepubliken» einen Hinweis auf die Angst der Oligarchie vor rebellischen und sozialen Impulsen eines Volksaufstands. Entschieden bestritt die Schule von Alexander Busgalin und Andrej Kolganow den imperialistischen Charakter der russischen Politik, denn ein Land der «Semiperipherie» des aktuellen Weltsystems sei in der Regel nur Objekt, aber nicht Subjekt imperialistischer Politik. Sie stützen sich ausdrücklich auf die Leninsche Imperialismustheorie, deren irreparable Probleme hier nicht diskutiert werden müssen. Aber die Moskauer Marxisten ignorieren gänzlich die klaren Worte Lenins zum russischen Imperialismus, die er auf das Zarenreich des Jahres 1917 bezogen hatte:
«Um in zensurfähiger Form dem Leser klarzumachen, wie schamlos die Kapitalisten und die auf ihre Seite übergegangenen Sozialchauvinisten (gegen die Kautsky so inkonsequent kämpft) in der Frage der Annexionen lügen, wie schamlos sie die Annexionen ihrer Kapitalisten bemänteln, war ich gezwungen, als Beispiel Japan zu wählen! Der aufmerksame Leser wird mit Leichtigkeit an Stelle Japans Russland setzen und an Stelle Koreas Finnland, Polen, Kurland, die Ukraine, Chiwa, Buchara, Estland und die anderen nicht von Großrussen besiedelten Gebiete.»
Ganz sicher gehörte das russische Zarenreich nicht zu den Zentren des kapitalistischen Weltsystems: Die befanden sich in London und New York, in Paris und Berlin. Von diesen Zentren war Russland in vieler Hinsicht abhängig. Aber Lenin ist deshalb nicht auf die Idee gekommen, es als ein nichtimperialistisches Land anzusehen. Seine Jünger hundert Jahre später schafften es erst nach dem 24.Februar 2022, sich von der Aggression in der Ukraine zu distanzieren. Das entsprechende Video ist auf Youtube allerdings nicht mehr zugänglich. Die russische Führung hat es bekanntlich verboten, den Krieg auch nur beim Namen zu nennen.

Ukrainische Kriegsziele
In Anbetracht des militärischen Kräfteverhältnisses liegt die Initiative im Ukrainekrieg nach wie vor bei Russland. Das heißt nicht, das die Ukraine keine Kriegsziele verfolgt. Welche das bis Ende März waren, ist an den Vorschlägen ihrer Verhandlungskommission zu sehen:
Neutralität; detaillierte internationale Sicherheitsgarantien für die Gebiete der Ukraine, die bis zum 23.Februar 2022 der faktischen Kontrolle der Regierung in Kiew unterstanden, das heißt ohne die Krim, Sewastopol und bestimmte Gebiete im Donbass; eine Frist von 15 Jahren für die Klärung der Krimfrage; ein Ablaufplan für die Auflösung der bewaffneten Konfrontation. Ein Programm zur Verteidigung der Ukraine, nicht mehr, nicht weniger.
Das war Ende März. Inzwischen ist die Bestrafung der Verantwortlichen für die Kriegsverbrechen in den zeitweilig besetzten Gebieten dazugekommen.
9.April 2022

*Der Autor war 1990/91 einer der Sprecher der Vereinigten Linken Berlin, ist heute freiberuflicher Bildungsreferent und Gewerkschafter. (Quelle: https://planwirtschaft.works.)

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