Antworten auf den grassierenden neoliberalen Nationalismus
von Elfriede Müller
Die internationale Philosophie der letzten Jahre versucht auf unterschiedliche Art und Weise, der Nationalisierung des Lebens auf allen Ebenen etwas entgegenzusetzen. Es handelt sich dabei meistens um linksliberale Autor:innen, die auf Begriffe der Menschenrechte rekurrieren, den in postkolonialen Debatten zurecht in Verruf geratenen Terminus des Universalismus und des Kosmopolitismus wiederbeleben und versuchen, diese Begriffe mit neuem Inhalt und kritischem Potenzial zu versehen. Selten wird auf den – in der Praxis auch sehr widersprüchlichen – Internationalismus der Arbeiterbewegung zurückgegriffen.
Die zwei hier verhandelten Autor:innen sind Beispiele für diese Debatte. Sie unterscheiden sich nicht nur in ihrer politischen Haltung, sondern auch dadurch, dass bei Boehm ein Gesellschaftsbegriff jenseits der Staatsbürgerlichkeit fehlt.
Omri Boehm
Radikaler Universalismus. Jenseits von Identität
Berlin: Propyläen, 2022, 175 S., 22 Euro
Omri Boehm erhielt 2024 den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung. Die Frage, warum bestimmte Autor:innen zu bestimmten Zeiten Preise erhalten, verweist immer auf die politische Situation: im Falle Boehms ist es der Nahostkrieg.
Eigentlich ist der kurze Essay eher eine Kritik des liberalen Universalismusbegriffs, den er als positivistisch und letztendlich nationalistisch auseinandernimmt. Boehm wirft dem Liberalismus vor, den abstrakten Universalismus der Aufklärung durch eine konkrete Identität zu ersetzen und meint damit vor allem liberale Philosophen wie Richard Rorty, der in seiner Kritik der Kulturwissenschaften in den 90er Jahren dem postmodernen Identitätsbegriff den »Nationalstolz« entgegensetze. Andere sollten ihm folgen.
Gleichzeitig führt er darin eine sehr innernordamerikanische Philosophiedebatte, die interessante Bezüge zur US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung herstellt, auf Figuren wie W.E.B. Du Bois und Martin Luther King eingeht und die Genese einer Nation aus der Sklaverei darstellt.
Boehm argumentiert auf der Grundlage der Philosophie Kants, den er gegen den Aufklärer Spinoza stellt. Er richtet sich eindeutig gegen die Nation, um den Universalismus zu verteidigen. Er kritisiert die Hinwendung des Liberalismus zum autoritären Nationalismus. Das ist allerdings nicht konsequent zu Ende gedacht, weil er sozioökonomische Bezüge völlig außen vor lässt und auf der Ebene der abstrakten Staatsbürgerlichkeit und deren Definition verharrt.
Boehm münzt seine Kritik am Liberalismus aber auch auf linke Identitätspolitik, die er als antiuniversalistisch bezeichnet. Seine zentrale, etwas skurrile These besagt, der Ursprung des Universalismus liege im Monotheismus, als Abraham von einem Engel befohlen wurde, seinen Sohn Isaak doch nicht zu opfern und damit wider den Gehorsam und für die Wahrheit zu agieren.
Boehm geht auf den Amerikanischen Bürgerkrieg ein und macht dort die zwei Fraktionen aus, die heute noch Nordamerika prägen: die Unionisten (als deren Vertreter er die Trump-Regierung sieht) und die Abolitionisten. Die einen – so seine Interpretation – wollten die Nation einen, die anderen die Sklaverei für immer aus der gesamten Menschheit tilgen. Die damals herrschende Sklaverei habe bedeutet, dass die Aufklärung gescheitert und deren Universalismus – nämlich der Grundsatz, dass alle Menschen gleich sind – untergraben worden sei. Im Verständnis der Unionisten war, so Boehm, der Besitz von Menschen ein geringeres Verbrechen, als diesem Besitz mit gewaltsamen Mitteln ein Ende zu bereiten.
Auch hier bleibt die ökonomische Ausbeutung ein Detail, entscheidend ist die nicht vorhandene staatsbürgerliche Gleichstellung der Sklaven.
In seinem Essay verwandelt Boehm den »metaphysischen Begriff von Gerechtigkeit« bei Kant in einen radikalen Universalismus der Solidarität, den er gegen die Identitätspolitik von rechts und links stellt. Er führt Beispiele aus der jüngeren Kunstgeschichte sowie der US-amerikanischen Klassenpolitik an, um dies zu verdeutlichen.
Den Preis erhielt Boehm wohl wegen seines Vorschlages einer Republik Haifa, einer binationalen Utopie für das heutige Israel und die besetzten Gebiete, die er in seinem Buch Israel – eine Utopie entwickelte. Die Republik Haifa würde die staatsbürgerliche Gleichheit zwischen Palästinenser:innen und Israelis herstellen. Der Zionismus ist für Boehm »der exemplarische Fall von Identitätspolitik der Nachkriegszeit«. Eine Einstaatenlösung, »bei der alle gleich sind, ist die Art von Politik, welcher der radikale Universalismus als Metaphysik dient«.
Doch auch hier wird das unterschiedliche ökonomische Gewicht zwischen beiden Bevölkerungsgruppen, das unweigerlich zu einer eklatanten Ungleichheit führen würde, nicht mitgedacht.
Statt auf Materialismus greift Boehm auf die Religion zurück und umschifft dabei Weltsichten wie den Marxismus. Auch seine Zuordnung Spinozas zum liberalen Denken ignoriert andere philosophische Ansätze wie die von Daniel Bensaïd, Gilles Deleuze, Katja Diefenbach oder Antonio Negri. Aber wahrscheinlich ist für Boehm Spinoza in seiner Religionskritik zu radikal und er vergisst dessen emphatischen Humanismus, der von großem persönlichen Leid geprägt war.
Seyla Benhabib
Kosmopolitismus im Wandel. Zwischen Demos, Kosmos und Globus
Wien: Mandelbaum, 2024, 92 S., 13 Euro
Von anderem Kaliber ist Seyla Benhabibs ebenso kurzer Essay zum selben Thema, »Kosmopolitismus im Wandel«. Ihr Bezug ist im Gegensatz zu Boehm die Arbeiterbewegung und der wenig bekannte Albert Hirschman, dessen Leben und Politik eng mit dem Internationalismus der Arbeiterbewegung verknüpft war.
Hirschman entwarf eine alternative Entwicklung von Ökonomie und Fortschritt einschließlich der Ökologie. Er kämpfte im Spanischen Bürgerkrieg auf der Seite der linken Antistalinist:innen und versuchte mit Varian Fry, viele Menschen vor dem Faschismus zu retten – u.a. bereitete er Visa für Walter Benjamin und Hannah Arendt vor. Hirschman verdient auch Würdigung als Zeuge der »tragischen Geschichte der Niederlagen der europäischen Linken«.
Auch Benhabib bezieht sich auf Kant und aktualisiert seinen Kosmopolitismus um die postkoloniale Debatte und deren Kreolisierung des Kosmopolitismus. Die Autorin zerpflückt genau wie Boehm den Nationalismus des Liberalismus und erwähnt den Universalismus des frühen Christentums. Benhabibs Ziel ist der »interaktive Universalismus« im Dialog, die Begegnung mit den Anderen, statt an Stelle der Anderen zu handeln.
Auch sie spart nicht mit Kritik an manchen unzulänglichen Ansätzen postkolonialer Theorie und analysiert feinsinnig das Fortdauern kolonialer Mechanismen nach der Entkolonialisierung.
Politisch konkret tritt sie für eine Erweiterung der Flüchtlingskonvention und ein neues Völkerrecht ein. Und wie Boehm für die Schaffung einer gemeinsamen Welt – allerdings in etwas größerem Maßstab – unter ökologischen Gesichtspunkten und unter Beachtung der Verteilungsgerechtigkeit. Es geht ihr darum, den Universalismus von der Geschichte des westlichen Kapitalismus und dem Zeitalter des Imperialismus und Kolonialismus zu lösen, zugunsten eines »Kosmopolitismus von unten«.
Dabei entwickelt sie die Idee von Hirschman weiter, der schon zu Beginn des 20.Jahrhunderts das Wirtschaftswachstum westlicher Prägung kritisierte und eine politische Ökologie forderte – gewissermaßen ein unbekannter Vorreiter des Ökosozialismus.
Ihr Kosmopolitismus ist ein Versuch, an den Internationalismus der Arbeiterbewegung anzuknüpfen, ohne seine nationalistischen Abweichungen und auch kolonialen Verwerfungen eines verkürzten Universalismus zu überwinden. Ihr Ansatz ist eindeutig antikapitalistisch und würde es verdienen, weiter ausformuliert zu werden. Sie hat die Welt und den Planeten im Blick und begreift, dass nur weltweite Veränderungen zur Emanzipation führen können und dass dafür ein »planetarisches Bewusstsein« von Nöten ist.
Ein pragmatisches Mittel für sie wäre »ein Projekt der demokratischen Selbstbestimmung, das sich in ein neues internationales Recht interdependenter Souveränitäten einbetten lässt«, durch einen Kosmopolitismus von unten.
Beide Essays reißen viel zu kurz ein drängendes Problem an: Wie kann heute, angesichts identitärer Bedrohungen, angesichts von Kriegen ohne diplomatische Lösungen in Sicht, angesichts der Klimakatastrophe und einer schwachen und gespaltenen Linken dieser schlechte Zustand mit einer attraktiven Alternative beendet werden?
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