Scheitert das Prestigeprojekt der Bahn schließlich doch? Ein unrühmliches Ende wäre möglich, wenn der Protest weitergeht.
von Tom Adler
Die CDU will eine Gesetzesänderung rückgängig machen, die die Ampelregierung erst vor gut einem Jahr beschlossen hat. Denn mit diesem neuen §23 AEG (Allgemeines Eisenbahngesetz) ließen sich möglicherweise Bahnflächen sichern, um den Schienenverkehr auszubauen – auch solche vom Stuttgarter Hauptbahnhof. Das steht den Verwertungsinteressen von Bahnvorstand, Immobilien- und Bauindustrie sowie der Kommunen im Weg, weshalb das Eisenbahngesetz abermals geändert werden soll.
Daran zeigen sich die aktuellen Schwierigkeiten, in die sich die Deutsche Bahn (DB) hineinmanövriert hat. Die politische Mehrheit für Stuttgart21 (S21) wackelt nämlich. Die Bau- und Immobilienkonzerne, die hinter dem Umbau des Hauptbahnhofs stehen, geraten unter Druck. Aber sie halten am Weiterbau fest, um die bereits eingeplanten Milliarden öffentlicher Gelder in ihre Kassen zu lenken. Die Krisenmomente folgen immer schneller aufeinander, je näher der Termin der Inbetriebnahme des Tiefbahnhofs kommt.
Erste Krise: Glaubwürdigkeit
Ein Blick zurück zeigt, wie viel Glaubwürdigkeit verlorengegangen ist. Das S21-Kommunikationsbüro gewann 2013 einen Prozess gegen die Stuttgarter Zeitung, die geschrieben hatte, der Bahnhof werde erst 2022 in Betrieb gehen, was das Kommunikationsbüro wissen müsse. Das Landgericht bewertete dies als »wahrheitswidrige, den Kläger herabwürdigende Tatsachenbehauptung«. Heute würden die Richter der Bahn ins Gesicht lachen.
Zweite Krise: Erodierende mediale Rückendeckung
In den sog. Leitmedien wird S21 mittlerweile als größtes Kostendesaster der Bahn bezeichnet. Die Welt rechnet scharf mit ihrer eigenen Rolle ab, wenn sie schreibt, »eine erhebliche Mitverantwortung trägt eine politische Öffentlichkeit, in der während des jahrzehntelangen Streits nicht Argumente, sondern Klischees zählten« (»Stuttgart21: Der Sargnagel der deutschen Bahn-Politik«, Die Welt, 10.5.2024).
Dritte Krise: Infrastrukturdesaster auf neuem Niveau
Fast zwei Jahrzehnte lang wurde die Bahninfrastruktur bewusst auf Verschleiß gefahren. Selbst der Bahnvorstand kann den verheerenden Zustand nicht mehr schön reden. Trotzdem sind die Schulden heute höher als vor der kompletten Entschuldung durch den Bund vor dreißig Jahren.
Die Bundesregierung finanziert die Reparatur der Infrastruktur in einer Form, die das Problem verschärft. Sie erhöhte das Eigenkapital, für das die Bahn Zinsen zahlen muss. Deshalb steigen die Trassenpreise für den Personenfern- und Güterverkehr (um 17,7 bzw. 16,2 Prozent).
Die Zuschüsse gewährte der Bund als Kredit, was den Bundeshaushalt entlastet, aber die Schulden der Bahn aufbürdet. So droht eine Verlagerung von der Schiene auf die Straße, ein weiterer Rückschlag für die Verkehrswende.
Der Infrastrukturbereich wurde aus dem Zugriff des Konzernvorstands herausgelöst. Daran wurde viel Hoffnung geknüpft, aber die neue Infrago AG ist weiterhin den Weisungen des Konzernvorstands untergeordnet und eine Aktiengesellschaft – das Gegenteil der erhofften Verpflichtung aufs Gemeinwohl.
Vierte Krise: Die inneren Krisen des Projekts
Eröffnungstermine werden immer weiter hinausgeschoben, die Projektkosten steigen ständig, die Lüge über die Leistungsfähigkeit des neuen Bahnhofs sind unhaltbar geworden. All das führt zu Konflikten unter den Projektunterstützern. Zum Beispiel protestierte Stuttgarts OB Frank Nopper bei der Bahn, weil die Immobilienprojekte im heutigen Gleisvorfeld des Kopfbahnhofs in Frage stehen.
Niemand behauptet mehr, dass acht Tiefbahnhofgleise mehr können als sechzehn oberirdische. Als Allheilmittel werden deshalb »Digitalisierung« und das European Train Control System (ETCS) propagiert. Sie sollen die Defizite des Tiefbahnhofs ausgleichen. Aber die Verbesserungen, die diese Technik bringt, werden überschätzt, wie Erfahrungen aus der Schweiz und Norwegen belegen.
Sie führen im Fall von S21 außerdem zu noch mehr Tunnelbauten und damit einem noch größeren Klimaschaden. Die Finanzierung ist umstritten und unsicher, weswegen sich der baden-württembergische Verkehrsminister Winfried Hermann und der Ministerpräsident Winfried Kretschmann an die Ampelparteien gewandt haben.
Fünfte Krise: Finanzierungslücken im Stadthaushalt
Laut dem Stuttgarter Finanzbürgermeister fehlen 7,5 Milliarden Euro für anstehende Investitionen. Projekte müssten gestrichen werden, sagt die Kämmerei. Allein 1,6 Milliarden der Gesamtsumme müssen für den Wohnungsbau im sog. »Rosensteinquartier« aufgebracht werden. Dabei ist der Bedarf an den Wohnungen fraglich, denn es gibt in Stuttgart Leerstand ohne Ende.
Die Projektkosten haben sich vervierfacht. Im Frühjahr hat das Stuttgarter Verwaltungsgericht die Klage der Bahn auf Beteiligung von Land, Stadt und Region an den Mehrkosten zurückgewiesen. Die DB könnte auf Milliarden sitzen bleiben. Stadtklimatologen warnen unterdessen vor der Bebauung des Gleisvorfelds, denn es handelt sich um die wichtigste Kühlfläche und Frischluftschneise für die schon heute überhitzte Innenstadt.
Sechste Krise: Die AEG-§23-Novelle und der Protest entlang der Gäubahnstrecke
Wie bereits erwähnt beschloss der Bundestag Ende 2023 eine Novellierung des AEG. Dessen §23 erlaubt künftig Entwidmungen – sprich: Verkauf und Umnutzung – von Bahnverkehrsflächen nur noch bei »überragendem öffentlichem Interesse«. Wohnungsbau oder Arbeitsplätze gehören nicht dazu.
Diese Änderung sorgt für Panik, weil damit die Verwertung der Kopfbahnhofflächen in Frage steht. Es sei denn, diese Regelung wird wieder abgeschafft, wie es ein Gesetzentwurf der CDU vorsieht. Bei einer Anhörung im Verkehrsausschuss des Bundestags wurden Anfang Dezember Sachverständige dazu angehört. Die Mehrheit der Sachverständigen war gegen eine Novellierung.
Der von der Linken eingeladene Werner Sauerborn, Geschäftsführer des Aktionsbündnis gegen S21, betonte die Bedeutung des novellierten §23 für eine künftige Verkehrswende.
Sollte die Gesetzeslage unverändert bleiben, ist die nächste Krise zwischen Stadt, Land und Bahn vorprogrammiert. Die Notwendigkeit eines Plan B für den Hauptbahnhof stünde im Zentrum der politischen Auseinandersetzung. Die Deutsche Umwelthilfe (DUH) und die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) haben im Sommer 2024 einen solchen Plan vorgestellt. Er sieht vor, dauerhaft »oben zu bleiben« (den Kopfbahnhof weiter zu betreiben) und zu schauen, was »unten« kann (den Tiefbahnhof ebenfalls zu nutzen).
Besonders in den Städten und Gemeinden entlang der sog. »Gäubahnstrecke« von Zürich nach Stuttgart ist eine Bewegung entstanden, die für den Anschluss an den oberirdischen Kopfbahnhof kämpft.
Eigentlich soll die Gäubahn 2026 gekappt werden. Im Süden Baden-Württembergs reicht der Protest dagegen weit in die CDU und die Grünen hinein. Letztere haben auf ihrem Landesparteitag im Dezember 2024 dafür votiert, den Anschluss der Gäubahn an den oberirdischen Bahnhof zu erhalten. Auch die DUH klagt gegen die Kappung.
Der novellierte §23 AEG, der Plan B von DUH und GDL und die Mobilisierung entlang der Gäubahn sind wichtige Etappensiege für die Gegner von S21. Ein baldiger Kollaps des Projekts ist aber nicht zu erwarten. Mächtige Kapitalgruppen pochen darauf, dass weitere Milliarden öffentliches Geld in private Kassen fließen.
Aber die Risse in ihrem scheinbar unbezwingbaren Konstrukt aus Geld, Beton und Stahl werden immer unübersehbarer. S21 wird kaum an sich selbst scheitern. Bewegung und Widerstand auf der Straße bleiben der Katalysator, um das »abgrundtiefe und bodenlose Projekt« (Winfried Wolf) tatsächlich zu beenden.
Tom Adler war Betriebsrat bei Daimler in Untertürkheim und ist Abgeordneter im Stuttgarter Stadtrat für die Partei Die Linke. Er ist seit langem in der Bewegung gegen S21 aktiv.
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