Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 04/2018
Berlin: Die Buchmacherei,  2017. 835 S., 22 Euro
von Rolf Euler

Auf der Suche nach Rosas Erbe, ist Jochen Gester auf die Spur des deutschen Sozialisten Willy Huhn gekommen. In einem umfassenden Buch plus CD mit Texten lässt der Autor einen Marxisten zu Wort kommen, der anscheinend sein Leben lang zwischen vielen Stühlen der kommunistischen, sozialistischen und rätedemokratischen Bewegungen zugebracht und sich oft heftig mit den Hauptströmungen der Arbeiterbewegung des 20 Jahrhunderts auseinandergesetzt hat.

Jochen Gester hat hier auch eine Fleißarbeit in Archiven und Publikationen geleistet, deren Ergebnis uns einen genaueren Einblick in viele Nebenströmungen der marxistischen Bewegungen und Parteien gibt. Diese und die Zeit der sozialdemokratischen und kommunistischen Auseinandersetzungen vor und nach der russischen Revolution werden beleuchtet von Willy Huhn, der sich 1929 als 20jähriger mit Schwung in die sozialistische Jugend begibt, nachdem er sich vom autoritären Elternhaus gelöst hat, den Tod des oft schlagenden Vaters hinter sich lässt und sich auf den Weg eines schreibenden, denkenden und lehrenden Revolutionärs begibt.

Das Buch enthält eine ausführliche Lebensbeschreibung von Willy Huhn, beschreibt seine vielen prekären Jahre, vielen Krankheiten, aber auch die vielen Begegnungen und die Mitarbeit in verschiedenen Jugend- und Parteiorganisationen. Dazu kommt ein Personenregister, das 33 Männer (warum nur Männer?) umfasst, oft eher unbekannte Sozialisten aller Richtungen, mit denen Huhn zu tun hatte, mit denen er sich auseinandersetzte. Darauf folgt ein ausführlicher Teil mit Originaldokumenten von Willy Huhn, kenntnisreich zusammengetragen, davon ein größerer Teil auf CD, um das Buch nicht noch dicker und «unhandlicher» zu machen.

Das Buch dokumentiert sehr klar, dass Willy Huhn ein kenntnisreicher, unbequemer Marxist war, der vor allem die Theorien der damaligen bolschewistischen Revolution und Partei in Russland und Deutschland als Errichtung einer Parteiherrschaft anstelle einer rätedemokratischen Arbeitermacht kritisiert. Auch die trotzkistische Kritik am Stalinismus ist ihm nicht genug, weist er doch auch Trotzki ein Mitwirken an der falschen Ausrichtung der russischen Revolution nach – «spätestens nach Kronstadt...» In den Dokumenten findet sich ein ausführlicher Artikel Huhns über die «Theorie des ‹Arbeiterstaates› in Russland» mit seiner Kritik an der dortigen Entwicklung.

Huhn arbeitet bis zum Faschismus in der linken Jugendopposition der SPD und nach seinem Ausschluss in der SAP – «weder bolschewistisch, noch sozialdemokratisch» war die von ihm unterstützte Richtung. Er arbeitet sich vor allem theoretisch an den Vorstellungen Lenins, Trotzkis und vieler anderer kommunistischer und sozialdemokratischer Führer ab. Während des Faschismus mal verhaftet, bald getrennt von vielen Verfolgten und Mitkämpfern und auf sich allein gestellt, erlebt er schwierige Zeiten. Er wird wegen Krankheit  nicht an die Front geschickt, überlebt das Kriegsende in der Nähe von Berlin, seine Frau und sein Sohn sterben in den letzten Kriegstagen.

Sein Weg führt ihn in die Bildungseinrichtungen der SBZ in Ostberlin, später in Thüringen, er tritt in die KPD ein und wird bald ausgeschlossen. Begibt sich in den Westen und versucht, sich als politischer Redakteur und theoretischer Arbeiter ein Einkommen zu schaffen. Eintritt in die SPD, aus der er 1954 wieder ausgeschlossen wird, weil sein radikaler Marxismus in den Parteien weder im Osten noch im Westen «anschlussfähig» ist. Seine Mitarbeit an verschiedenen Blättern der Linken, Pro und Contra, Neues Beginnen. Blätter internationaler Sozialisten führen uns eine Zeit vor Augen, die nach der großen Wende 1989 wie «ausgewischt» erscheint – wen interessieren diese Auseinandersetzungen noch? Und doch scheint in den Texten von Huhn immer wieder durch, wie sehr er sich mit einer «richtigen» Theorie des zukünftigen Sozialismus abmüht und andere Ansichten kritisiert.

Dies trägt er Mitte der 60er Jahre auch in die beginnende Studentenbewegung hinein – in einer ausführlichen Kritik an der Neupropagierung von Lenins Buch «Der linke Radikalismus» beim Berliner Express und der SEW verteidigt er die radikalen Ansichten der Rätebewegung gegen Lenin, hält Vorträge in der Sozialistischen Bildungsgemeinschaft.

Seine Erkrankung führt Anfang 1970 zum Tode, den Nachruf finden wir auszugsweise in Jochen Gesters Buch, in dem es heißt:

«Er konnte sich keinen Sozialismus ohne Demokratie und ohne Tendenz zum Absterben des Staates vorstellen. Sozialismus setzt nach Willy Huhn zweierlei voraus: Vergesellschaftung der Produktionsmittel und Kontrolle des gesamten gesellschaftlichen Prozesses durch gewählte Arbeiterräte mit gebundenem Mandat … Marxistische Theorie, wie er sie verstand und lehrte … kann niemals abgeschlossen sein, weil ihr Erkenntnis- und Einwirkungsobjekt, das gesellschaftliche Leben selbst, in ständiger, oft sprunghafter Fort- und Umbildung begriffen ist.»

Für den historisch und an der Geschichte der marxistischen Bewegungen interessierten Leser bietet das Buch eine Quelle vieler Erkenntnisse, und auch wenn die Schriften Huhns viele vergangene Auseinandersetzungen betreffen, so spürt man den kämpferischen Kern der Debatte und die Forderung, sich in Zukunft weiter mit der Erneuerung von marxistischen Theorien zu mühen, die die neuen Entwicklungen und Bewegungen erfassen.

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