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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 09/2022

Gründe gegen einen kurzfristig vollständigen Verzicht auf russisches Gas
von Hanno Raußendorf

Dem Überfall Russlands auf die Ukraine begegnet auch Deutschland mit Sanktionen auf Gasimporte. Die Folgen sind einschneidend. Die dringend notwendige Klimawende gerät dabei aus dem Blick.

Bis Sommer 2024 will die Bundesregierung »in einem gemeinsamen Kraftakt die Unabhängigkeit von russischem Gas weitgehend erreichen« – ein schwer zu erreichendes Ziel. Gas macht 27 Prozent des bundesdeutschen Primärenergieverbrauchs aus. Nennenswerte eigene Gasvorkommen hat Deutschland nicht und ist daher fast vollständig auf Importe angewiesen. Der Anteil von russischem Gas lag 2020 bei über 50 Prozent und liegt auch heute, trotz aller Bemühungen, noch bei rund 30 Prozent.
Nun gibt es aus Klimasicht allen Grund, die hohe Abhängigkeit von Erdgas allgemein in Frage zu stellen. Denn Erdgas ist nicht die relativ harmlose Energiequelle, als die es seit Jahren für einen Übergang zur Klimaneutralität angepriesen wird. Zwar verursacht seine Verbrennung im Vergleich zu Kohle und Öl einen deutlich geringeren CO2-Ausstoß, Leckagen bei Förderung und Transport heben diesen Effekt aber zu einem guten Teil wieder auf. Dabei wird Methan freigesetzt – Hauptbestandteil von Erdgas und um ein vielfaches klimaschädlicher als CO2.
Allerdings spricht alles dafür, Erdgas, soweit es noch benötigt wird, über das existierende Pipelinenetz zu importieren. Denn dort, wo keine Leitungen liegen, bleibt nur der Transport als Flüssiggas (LNG – Liquefied Natural Gas). Dafür muss das Gas unter ?162 Grad Celsius her­unter­gekühlt werden, wodurch sein Volumen um den Faktor 600 reduziert wird. Bei diesem aufwändigen Prozess werden zwischen 10 Prozent und einem Viertel des Heizwerts verbraucht.
Damit ist LNG in der Tendenz nicht nur teurer als Erdgas aus der Pipeline, auch seine Klimabilanz ist schlechter. Das gilt insbesondere für sog. »unkonventionelles Erdgas« (Frackinggas) aus den USA, das als LNG zunehmend auf den europäischen Markt drängt.
Aus Klimasicht spricht deshalb viel für einen beschleunigten Ausstieg aus dem Erdgas, nicht viel aber für die vorgezogene Beendigung russischer Erdgasimporte. Russland und Deutschland verbindet ein dichtes Netz an Pipelines.

Profiteure und Leidtragende
Seit Beginn des Ukrainekriegs explodieren die Gaspreise – zunächst nur an den Gasbörsen und in Erwartung einer zukünftigen Verknappung, unterdessen auch aufgrund real zurückgehender Lieferungen aus Russland. Wer als Importeur im August Gas für den Rest des Jahres eingekauft hat, zahlte rund 19 Cent pro Kilowattstunde – das ist fast das Zehnfache gegenüber dem langjährigen Mittel und mehr als eine Verdreifachung gegenüber dem Importpreis im Mai. Demgegenüber profitieren Händler mit langfristigen Lieferbeziehungen noch in einem gewissen Umfang von vertraglich vereinbarten Preisen und können sich über Extraprofite freuen.
Teile der Energiewirtschaft profitieren massiv. Bei BP verdreifachte sich aufgrund der Preisexplosion im Energiesektor der Reingewinn, ebenso bei den Ölgiganten Chevron und Exxon, andere haben ihr Plus verdoppelt.
Auch der Essener Energiekonzern RWE hat seine Gewinnerwartungen für dieses Jahr von knapp vier Milliarden auf nun fünfeinhalb Milliarden Euro erhöht. Gasimporteure wie Uniper dagegen, die bislang einen ganz erheblichen Anteil ihres Erdgas aus Russland bezogen, sind von der Pleite bedroht.
Derweil steigen die Preise für den Endkunden in schwindelnde Höhen. Dies betrifft die Menschen in zweierlei Hinsicht. Rund ein Drittel des Gasverbrauchs entfällt auf private Haushalte, ganz vorwiegend für Hauswärme und zu einem sehr viel kleineren Teil für Warmwasser. Mit etwa 50 Prozent ist Gas in Deutschland der mit Abstand bedeutendste Heizenergieträger. Hinzu kommt ein Anteil von Gas am Strommix, der bei 12 Prozent liegt. Explodierende Gaspreise haben deshalb Auswirkungen auch auf den Strompreis.
Für weniger einkommensstarke Haushalte mit Gasheizung und Warmwasserbereiter droht 2022 ein kalter Winter zu werden. Nach Daten des Vergleichsportals Verivox kostete eine Kilowattstunde Gas für Neukunden Mitte August im Mittel 31 Cent. Vor zwölf Monaten lag der Preis für Neukunden bei 5,7 Cent pro Kilowattstunde. Aber auch Bestandskunden werden diesen Winter unter mehr als verdoppelten Preisen zu leiden haben. Dies wird zu Energiearmut einer ganz neuen Dimension führen.

Gas und Frieden
Nicht nur deshalb fragt sich, ob ein Gas-Abnahme-Embargo gegen Russland nicht der falsche Weg ist. Die damit einhergehenden Belastungen sind auch hierzulande gewaltig. Gleichzeitig droht eine weitgehende Isolierung der russischen Wirtschaft von der westeuropäischen eine große Hypothek für jede Friedensordnung am Ende des Ukrainekonflikts zu werden.
In einer Welt, in der sich die Konkurrenz kapitalistischer Mächte um Absatzmärkte und Ressourcen immer weiter zuspitzt, ist gegenseitige Abhängigkeit ein stabilisierender Faktor. Eine fortschreitende Verfeindung des Westens mit Russland, die Kappung des Netzwerks an Verbindungen auf allen Ebenen kann einen Punkt erreichen, von dem aus sie, auch nach einer dringend notwendigen Waffenruhe in der Ukraine, nicht mehr rückgängig zu machen sein wird. Auch in diesem Sinne ist die von der Bundesregierung erklärte Gasunabhängigkeit von Russland keine gute Idee.
Dazu tut die Bundesregierung wenig, um zumindest die Menschen am unteren Ende der Einkommensskala vor den schlimmsten Auswirkungen ihrer Politik zu schützen.
Andere europäische Länder begegnen den unverdienten Profiten der Konzerne im Energiesektor mit einer Sondersteuer. Die EU-Kommission hat ihren Mitgliedstaaten schon im Frühjahr grünes Licht für eine sog. Übergewinnsteuer gegeben und eine solche nahegelegt. Länder wie Belgien, Spanien und Italien sind dem gefolgt. Sie wollen damit zumindest teilweise Krisengewinne abschöpfen. Aus den Einnahmen können besonders stark betroffene Haushalte entlastet werden. Spanien will in den nächsten zwei Jahren sieben Milliarden Übergewinnsteuer einnehmen und direkt für Sozialausgaben verwenden. Hierzulande könnte man auf diese Weise sofort das untere Drittel aller Haushalte um 375 Euro entlasten.
Aber in Berlin kann sich die Koalition nicht einigen. Die FDP sperrt sich. Ihr Vorsitzender Lindner: »Das Steuerrecht muss vor Willkür geschützt werden.«

Gaspreisdeckel statt Steuersenkung
Statt die Profiteure zur Kasse zu bitten und Menschen vor Energiearmut zu schützen, werden hierzulande Gasverbraucher ab dem ersten Oktober noch mit der Gasumlage belastet. Energieversorger sollen noch einmal 2,4 Cent pro Kilowattstunde auf die Gasrechnung draufschlagen können. Mit dieser Umlage sollen in Schieflage geratene Gasimporteure vor der Pleite bewahrt werden. Betroffen ist Uniper, aber auch die EnBW-Tochter VNG und der Regionalversorger EWE. Ersten Berechnungen zufolge ergibt sich für einen vierköpfigen Durchschnittshaushalt dadurch eine Zusatzbelastung von bis zu 600 Euro im Jahr – ohne Mehrwertsteuer.
Es ist das bekannte Spiel: Gewinne werden privatisiert, Verluste sozialisiert. Die Kosten für die Konzernrettung sollen die Gasverbraucher zahlen.
Der Widerstand dagegen wächst. Und so hat die Bundesregierung eine Senkung der Mehrwertsteuer auf Erdgas und Gasumlage von bislang 14 Prozent auf 7 Prozent nachgeschoben – befristet bis März 2024. Kanzler Scholz erwarte von den Unternehmen, dass sie diese »eins zu eins an die Verbraucher weitergeben«. Gezwungen sind sie dazu nicht, und angesichts der Erfahrungen mit dem so genannten Tankrabatt fragt man sich, worauf sich diese Erwartung gründet. Aber selbst bei vollständiger Weitergabe der Steuersenkung wird dies in vielen Fällen nicht mal ausreichen, um die Mehrbelastung durch die Gasumlage zu kompensieren.
Abgesehen davon schafft eine Steuersenkung nur eine Entlastung nach dem Gießkannenprinzip, Gebraucht wird aber eine substantielle Entlastung des unteren Drittels auf der Einkommensskala.
Echte Entlastung könnte kurzfristig ein sog. Gaspreisdeckel für den haushaltsüblichen Verbrauch schaffen, wie ihn Gewerkschaften, Sozialverbände und Die LINKE fordern. Damit könnten die Kosten für den Grundbedarf auf dem Niveau von 2021 eingefroren und für die Energieversorger ausgeglichen werden. Der grüne Wirtschaftsminister Habeck lehnt dies ab.
Gegen diese unsoziale Politik formiert sich der Widerstand. Die LINKE bereitet sich auf einen »Heißen Herbst«, gegen die Preisexplosion bei Lebensmitteln, Energie und Lebenshaltungskosten vor.
Einen sinnvollen Weg, wie sich parallel die deutsche Abhängigkeit von Erdgas zugunsten des Klimas schnell verringern ließe, weist unterdessen eine neue Studie des Zero Emission Think Tank ZETT. Sie schlägt einen Masterplan mit einem Finanzvolumen von 40 Milliarden Euro vor.
Gasspeicher wollen die Autoren vor dem Winter dadurch füllen, dass sie Biogasanlagen systematisch an das Erdgasnetz anschließen. Bislang wird Biogas meist vor Ort zur Stromproduktion genutzt. Mit einem »Sofortgesetz« sollen 1700 neue Windkraftanlagen entstehen und bis zum Winter 330000 zusätzliche Strom-Wärme-Pumpen installiert werden. Zusätzlich soll die Wärmedämmung im Bestand forciert werden.
Auch wenn der Zeitrahmen etwas zu optimistisch gewählt scheint, wären diese Maßnahmen deutlich sinnvoller, als russisches Gas durch zusätzliche Lieferungen aus Norwegen und den Niederlanden zu ersetzen.

Der Autor ist Sprecher für Klima und Umwelt im Landesvorstand der Partei Die LINKE in NRW.

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