›Die Unternehmer nutzen den Krieg, um Arbeiterrechte zu beseitigen‹
Interview mit Juryj Samojlow von der Unabhängigen Bergarbeitergewerkschaft
Mitte November 2022, vier Tage nach dem Rückzug der russischen Armee aus Cherson, sprach Ignacy Józwiak von der polnischen Gewerkschaft der Arbeiterinitiative (IP) mit Juryj Samojlow, dem Vorsitzenden der Unabhängigen Bergarbeitergewerkschaft in der Stadt Krywyj Rih. Der Bergarbeitergewerkschaft gehören derzeit auch Metallarbeiter und einige medizinische Fachkräfte an. Sie wurde 1992 gegründet und hat in Krywyj Rih 2400 Mitglieder. Samojlow vertritt darüber hinaus den lokalen Bund freier Gewerkschaften, dem auch Eisenbahner, Lehrer, Mediziner und Beschäftigte im Dienstleistungssektor angehören.
Welches sind die größten Unternehmen in Krywyj Rih, abgesehen von Arcelor Mittal?
Es gibt Bergwerke, Fabriken und metallverarbeitende Betriebe, die ukrainischen Oligarchen gehören: Jaroslawskyj, Kolomojskyj, Achmetow. Wenn wir streiken, haben wir einen Konflikt mit diesen drei Oligarchen.
Wann war der letzte Streik bei euch?
Der letzte große Streik war im Jahr 2020, als eine Gruppe von Beschäftigten 46 Tage lang unter Tage blieb, zu Beginn waren es etwa 500 gewesen. Wir kämpften für eine Lohnerhöhung von 30 Prozent und den Schutz sozialer Garantien für Bergarbeiterinnen und Bergarbeiter.
Die Unternehmer waren auf die Idee gekommen, dass die Arbeit unter Tage nicht mehr schädlich sei, das hat den Konflikt ausgelöst. Es gab Proteste, wir waren in Kiew zu einem Treffen mit dem Präsidenten, es kam zu Auseinandersetzungen mit der Polizei. Der Konflikt dauert immer noch an, nur ist er jetzt in einer gedämpften Phase.
Ich denke, dass sich diese Geschichte mit den sozialen Garantien in den nächsten zwei Jahren wiederholen wird. Jetzt nutzen die Unternehmer die Kriegssituation, um den Beschäftigten einige Rechte und Garantien zu entziehen, sowohl in finanzieller als auch in sozialer Hinsicht.
Wie ist die Situation in der Industrie derzeit?
Die Industrie ist zu etwa 30 Prozent ausgelastet. Einige Bergleute sind beurlaubt. Dort, wo wir als Gewerkschaft präsent sind, geschieht dies auf recht zivilisierte Weise, dort, wo wir nicht präsent sind, werden die Leute einfach rausgeschmissen, ohne ihren Lohn zu bekommen.
Viele Männer aus Krywyj Rih dienen beim Militär. Die Menschen stehen unter ständigem Stress, denn es gibt »irgendeinen« Job für »etwas« Geld. Ich betone: »etwas«. Es kann auch sein, dass es gar keine Arbeit und kein Geld gibt. In der Stadt gibt es viele Binnenvertriebene und Flüchtlinge – aus Saporischschja, aus der Region Donezk. Die meisten von ihnen sind auf der Suche nach Arbeit. Die Gehälter werden jetzt fast überall gekürzt, denn die Unternehmer können immer jemanden einstellen, vor allem in kleinen Betrieben.
Wie hoch ist das Gehalt, das die Beschäftigten während der Ausfallzeiten erhalten?
Ungefähr die Hälfte von dem, was sie während ihrer Arbeit erhalten haben. Oder gar nichts. Seit die Werchowna Rada einige soziale Garantien abgeschafft hat, ist das legal.
Wie haben sich die Arbeitszeiten verändert?
Das ist sehr unterschiedlich, angefangen bei der Tatsache, dass manche Leute nur einen oder zwei Tage pro Woche arbeiten. Es gibt auch Leute, die sechs Tage die Woche zwölf Stunden am Tag arbeiten. Die Gesetzgebung hat allgemein hier aufgehört zu funktionieren. Die Menschen arbeiten unter Tage nicht sieben Stunden, sondern zehn. Über Tage arbeiten sie zwölf Stunden. Begründet wird das mit der Ausgangssperre, sie geht von 22 Uhr bis 6 Uhr morgens.
Seit sechs Monaten können sich die Behörden nicht mit der Logistik der Ausgangssperre befassen und irgendwie werden sie es auch nicht tun. Stattdessen stellen sich die Unternehmen so gut es geht darauf ein. Längere Schichten unter Tage sind im kommen.
Vor dem Krieg hatte ein Unternehmer nicht das Recht, einen Arbeiter ohne die Zustimmung der Gewerkschaft zu entlassen. Jetzt haben sie dieses Recht erhalten und machen eifrig davon Gebrauch. Sie sagen, es gibt keine Arbeit und das war’s. Einen Grund für die Entlassung müssen sie nicht nennen. Elon Musk würde sich freuen, denn das sind seine Methoden – die Liberalisierung der Arbeitsbeziehungen.
Was sind jetzt die Hauptaufgaben für die Gewerkschaften in Krywyj Rih?
Genau wie zu Beginn des Krieges ist es unsere Aufgabe, unseren Mitgliedern, die jetzt in der Armee dienen, zu helfen. Die Versorgung der Armee mit so grundlegenden Sachen wie Nahrung, Kleidung, warmen Sachen muss sich verbessern. Die Wintersaison hat begonnen, und sie ist hart.
Manchmal rufen mich Leute an und sagen: »Mein Verwandter ist an der Front gefallen und seine Leiche liegt irgendwo auf einem neutralen Streifen nicht weit von der Stadt, helfen Sie mir, ihn abzuholen.« In Europa haben Gewerkschaften vielleicht Angst, über solche Sachen nachzudenken, hier tun wir es irgendwie.
Mehrere hundert Mitglieder unserer Gewerkschaft wurden in die Armee eingezogen, aber sie sind noch an ihrem Arbeitsplatz beschäftigt, ihre Arbeitsverträge liegen nicht auf Eis – noch nicht, es kann alles passieren. Sie bleiben also Mitglieder unserer Gewerkschaft.
Hier ist alles miteinander verwoben: die Arbeitsbeziehungen, die Situation in den Unternehmen, die Situation in der Stadt, verschiedene persönliche Beziehungen. In gewissem Sinne befasst sich die Gewerkschaft sich mit allem. Soldaten sind auch Arbeiter, doch gewerkschaftliche Arbeit in den Armeestrukturen ist verboten. Wir haben früher versucht, solche Gewerkschaften zu gründen, aber sie wurden schnell zerschlagen. Allerdings kann ein Soldat in der Armee nicht entlassen werden, er kann nur getötet oder verwundet werden.
Wo dienen die Mitglieder deiner Gewerkschaft?
Die meisten dienen hier. Vor dem Krieg und zu Beginn des Krieges wurden hier territoriale Verteidigungseinheiten gebildet; auf einer Seite sind sie militärisch, auf einer anderen nicht, und auf der dritten ist es überhaupt nicht klar. Wie auch immer, unsere Leute sind überall, von Charkiw bis Kinbursk. Ich habe Kontakte praktisch entlang der gesamten Frontlinie.
Wie ist die Einstellung der Gewerkschaftsmitglieder zum Krieg, was erhoffen sie?
Die Mehrheit der Menschen wartet auf den Sieg. Wir hoffen auf einen Sieg, aber wir haben auch einen Klassenansatz.
Was kann sich nach dem Sieg ändern, in Krywyj Rih und in der Ukraine?
Ich persönlich hoffe, dass das Selbstvertrauen der Menschen zunimmt. In den letzten Jahrzehnten haben die Menschen das Vertrauen in sich selbst und in ihr Umfeld verloren – in die gesellschaftlichen Institutionen, in die Gewerkschaft, in die Armee. Die Armee hat heute einen sehr großen Rückhalt, obwohl jeder weiß, welche Probleme es dort gibt. In unserem Land sind die Armee und das Volk ein und dasselbe. Das ist der Unterschied zwischen unserer Armee und der russischen Armee, hier hilft jeder, auch wenn er nicht an der Front ist. Wir haben hier eine interne und horizontale Mobilisierung, die die Fehler der Behörden korrigieren kann. Dabei denke ich eher an den wirtschaftlichen Bereich, nicht an das Militär.
Welche Rolle spielen die Frauen in der Arbeiterbewegung?
In Krywyj Rih haben die Bergarbeiterinnen eine führende Rolle in unserer Organisation. Der Streik 2020 stützte sich weitgehend auf die Schultern der Frauen. Sie waren sehr aktiv. Es gibt Bergwerke in unserer Stadt, in denen arbeiten mehr Frauen als Männer. Die Frauen spüren den Schutz, den die Gewerkschaft ihnen bietet. Sie wissen, dass sie ohne Gewerkschaft und einen Streik im Jahr 2020 fünf Jahre länger arbeiten müssten und zwei Wochen weniger Urlaub hätten.
Derzeit haben die Bergleute durchschnittlich 52 Tage Urlaub, es gab den Vorschlag, ihn auf 28 Tage zu kürzen. Es liegt auf der Hand, dass es etwas gibt, wofür es sich zu kämpfen lohnt. In unserer Gewerkschaft machen Frauen etwa 30 Prozent der Mitglieder aus, sie sind Bergarbeiterinnen und Metallarbeiterinnen.
Wie hat sich der Krieg auf sie ausgewirkt?
Einige Frauen sind an die Front gegangen. Einige sind zu Beginn des Krieges nach Polen und in die Tschechische Republik gegangen. Die meisten sind zurückgekehrt. Die Mehrheit der Frauen ist jetzt hier und arbeitet.
Hat sich in der Stadt nach der Befreiung von Cherson und den umliegenden Städten etwas verändert?
Die Stimmung hat sich geändert. Ich habe mich mit Leuten aus dem Gebiet Cherson getroffen, die jetzt in Krywyj Rih leben, sie bereiten sich darauf vor, nach Hause zu gehen, aufs Land, in kleine Städte. Aber was für eine Stimmung kann das sein, wenn man zu Hause ankommt und das Zuhause nicht da ist? In einigen Dörfern gibt es überhaupt keine Häuser mehr, wie während des Zweiten Weltkriegs. Deshalb gibt es keine Euphorie, auch wenn es Freude über die Befreiung von Cherson gibt.
Es ist hart dort, es gibt kein Wasser, keinen Strom, kein Gas – in einer Stadt, in der etwa 350000 Menschen leben. Jetzt sind es vielleicht 150000, denn mehr als die Hälfte hat die Stadt verlassen. Es heißt, dass mehr als 100000 nach Russland gegangen sind, aber soweit ich weiß, sind die meisten von ihnen über Lettland und Litauen direkt nach Polen gegangen. Jetzt haben alle Angst, dass wir gezwungen sein werden, Verhandlungen zu führen. Die Situation in der Ukraine könnte noch einige Jahre so bleiben.
Das Gespräch wurde am 25.12.22 auf laboursolidarity.org veröffentlicht: https://laboursolidarity.org/en/n/2480/employers-use-war-to-take-away-workers039-rights.
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