Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

Bert Brecht hielt nicht viel vom Recht auf geistiges Eigentum. Wir auch nicht. Wir stellen die SoZ kostenlos ins Netz, damit möglichst viele Menschen das darin enthaltene Wissen nutzen und weiterverbreiten. Das heißt jedoch nicht, dass dies nicht Arbeit sei, die honoriert werden muss, weil Menschen davon leben.

Hier können Sie jetzt Spenden
PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 01/2024

Israels kalkulierte Bombardierung des Gazastreifens

von Yuval Abraham

Die erweiterte Erlaubnis der israelischen Armee, nicht-militärische Ziele zu bombardieren, die Lockerung der Beschränkungen hinsichtlich der zu erwartenden zivilen Opfer und der Einsatz eines Systems künstlicher Intelligenz, das mehr potenzielle Ziele als je zuvor generiert, scheinen zum zerstörerischen Charakter der Anfangsphase des aktuellen israelischen Krieges gegen den Gazastreifen beigetragen zu haben, das zeigt eine Untersuchung des Magazins +972 und Local Call. Diese Faktoren, die von derzeitigen und ehemaligen Mitgliedern des israelischen Geheimdienstes beschrieben wurden, haben wahrscheinlich eine Rolle bei der Durchführung einer der tödlichsten Militärkampagnen gegen die Palästinenser seit der Nakba von 1948 gespielt.

Die Untersuchung von +972 und Local Call stützt sich auf Gespräche mit sieben derzeitigen und ehemaligen Mitgliedern des israelischen Geheimdienstes – darunter Angehörige des militärischen Geheimdienstes und der Luftwaffe, die an israelischen Operationen im belagerten Gazastreifen beteiligt waren – sowie auf palästinensische Zeugenaussagen, Daten und Unterlagen aus dem Gazastreifen und offizielle Erklärungen des IDF-Sprechers und anderer israelischer staatlicher Einrichtungen.

"Nichts geschieht zufällig"

Im Vergleich zu früheren israelischen Angriffen auf den Gazastreifen hat die Armee im aktuellen Krieg – den Israel als "Operation Eiserne Schwerter" bezeichnet und der nach dem von der Hamas geführten Angriff auf den Süden Israels am 7.Oktober begann – ihre Bombardierung von Zielen, die nicht eindeutig militärischer Natur sind, erheblich ausgeweitet. Dazu gehören private Wohnhäuser ebenso wie öffentliche Gebäude, Infrastruktur und Hochhäuser, die die Armee als "Energieziele" ("matarot otzem") bezeichnet.

Nach Angaben von Geheimdienstquellen, die in der Vergangenheit aus erster Hand Erfahrungen mit der Bombardierung von Energiezielen im Gazastreifen gesammelt haben, zielt die Bombardierung vor allem darauf ab, der palästinensischen Zivilgesellschaft zu schaden: Sie soll einen "Schock" auslösen, der unter anderem stark nachhallt und "die Zivilbevölkerung dazu bringt, Druck auf die Hamas auszuüben", wie es eine Quelle ausdrückte.

Mehrere der Quellen, die mit +972 und Local Call unter der Bedingung der Anonymität sprachen, bestätigten, dass die israelische Armee über Dateien zu den meisten potenziellen Zielen im Gazastreifen – einschließlich Häusern – verfügt, in denen die Anzahl der Zivilisten angegeben ist, die bei einem Angriff auf ein bestimmtes Ziel wahrscheinlich getötet werden. Diese Zahl wird berechnet und ist den Nachrichtendiensten der Armee im voraus bekannt, die auch kurz vor einem Angriff wissen, wie viele Zivilisten mit Sicherheit getötet werden.

In einem Fall, über den die Quellen berichteten, genehmigte die israelische Militärführung wissentlich die Tötung Hunderter palästinensischer Zivilisten bei dem Versuch, einen einzelnen hochrangigen Hamas-Militärkommandeur zu ermorden. "Die Zahlen stiegen von Dutzenden toter Zivilisten, die als Kollateralschaden bei einem Angriff auf einen hochrangigen Beamten in früheren Operationen zugelassen wurden, auf Hunderte toter Zivilisten als Kollateralschaden", sagte eine Quelle.

"Nichts geschieht zufällig", sagte eine andere Quelle. "Wenn ein dreijähriges Mädchen in einem Haus in Gaza getötet wird, dann deshalb, weil jemand in der Armee entschieden hat, dass es keine große Sache ist, dass sie getötet wird, dass es ein Preis ist, der es wert ist, um [ein anderes] Ziel zu treffen. Wir sind nicht die Hamas. Das sind keine zufälligen Raketen. Alles ist beabsichtigt. Wir wissen genau, wie viel Kollateralschaden es in jedem Haus gibt."

Der Untersuchung zufolge ist ein weiterer Grund für die große Zahl von Zielen und die weitreichenden Schäden für die Zivilbevölkerung im Gazastreifen der weit verbreitete Einsatz eines Systems namens "Habsora" ("Das Evangelium"), das weitgehend auf künstlicher Intelligenz beruht und Ziele fast automatisch in einer Geschwindigkeit "generieren" kann, die weit über das bisher Mögliche hinausgeht. Dieses KI-System ermöglicht, wie ein ehemaliger Geheimdienstoffizier beschreibt, im wesentlichen eine "Massenmordfabrik".

Den Quellen zufolge ermöglicht der zunehmende Einsatz von KI-basierten Systemen wie Habsora der Armee, Wohnhäuser, in denen auch nur ein einziges Hamas-Mitglied wohnt, in großem Umfang anzugreifen, selbst wenn es sich dabei um Nachwuchskräfte der Hamas handelt. Aussagen von Palästinensern im Gazastreifen deuten jedoch darauf hin, dass die Armee seit dem 7.Oktober auch viele Privatwohnungen angegriffen hat, in denen sich kein bekanntes oder offensichtliches Mitglied der Hamas oder einer anderen militanten Gruppe aufhielt. Solche Angriffe, so bestätigten Quellen gegenüber +972 und Local Call, können wissentlich ganze Familien töten.

In den meisten Fällen, so fügten die Quellen hinzu, werden die militärischen Aktivitäten nicht von diesen angegriffenen Häusern aus durchgeführt. "Ich erinnere mich, dass ich dachte, es wäre so, als ob [palästinensische Militante] alle Privatwohnungen unserer Familien bombardieren würden, wenn [israelische Soldaten] am Wochenende nach Hause gehen, um zu schlafen", erinnerte sich eine Quelle, die diese Praxis kritisierte.

Eine andere Quelle sagte, ein hochrangiger Geheimdienstoffizier habe seinen Offizieren nach dem 7.Oktober mitgeteilt, das Ziel bestehe darin, "so viele Hamas-Aktivisten wie möglich zu töten", wofür die Kriterien für die Schädigung palästinensischer Zivilisten erheblich gelockert wurden. So gibt es "Fälle, in denen wir auf der Grundlage einer breit angelegten zellularen Lokalisierung des Ziels zuschlagen und dabei Zivilisten töten. Dies geschieht oft, um Zeit zu sparen, anstatt etwas mehr Arbeit zu leisten, um eine genauere Lokalisierung zu erreichen", sagte die Quelle.

Das Ergebnis dieser Politik ist der erschütternde Verlust von Menschenleben in Gaza seit dem 7.Oktober. Mehr als 300 Familien haben in den letzten zwei Monaten zehn oder mehr Familienmitglieder durch israelische Bombardierungen verloren - eine Zahl, die 15mal höher ist als die Zahl des bisher tödlichsten Krieges Israels gegen Gaza im Jahr 2014. Zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Berichts wurden rund 15.000 Palästinenser in diesem Krieg getötet, Tendenz steigend.

"All dies geschieht entgegen dem Protokoll, das die IDF in der Vergangenheit verwendet hat", erklärte eine Quelle. "Man hat das Gefühl, dass sich hohe Beamte der Armee ihres Versagens am 7. Oktober bewusst sind und sich mit der Frage beschäftigen, wie sie der israelischen Öffentlichkeit ein Bild [des Sieges] vermitteln können, das ihren Ruf rettet".

Ein Vorwand, um Zerstörung zu verursachen

Israel begann seinen Angriff auf den Gazastreifen im Anschluss an die von der Hamas geführte Offensive auf den Süden Israels am 7. Oktober. Während dieses Angriffs massakrierten militante Palästinenser unter Raketenbeschuss mehr als 840 Zivilisten und töteten 350 Soldaten und Sicherheitskräfte, entführten rund 240 Menschen – Zivilisten und Soldaten – nach Gaza und verübten weit verbreitete sexuelle Gewalt, einschließlich Vergewaltigungen, so ein Bericht der NRO Ärzte für Menschenrechte Israel.

Vom ersten Moment an nach dem Angriff am 7. Oktober erklärten die Entscheidungsträger in Israel offen, dass die Reaktion ein völlig anderes Ausmaß haben würde als frühere Militäroperationen im Gazastreifen, mit dem erklärten Ziel, die Hamas vollständig auszulöschen. "Der Schwerpunkt liegt auf dem Schaden und nicht auf der Genauigkeit", sagte IDF-Sprecher Daniel Hagari am 9. Oktober. Die Armee setzte diese Erklärungen rasch in die Tat um.

Den Quellen zufolge, die mit +972 und Local Call sprachen, lassen sich die Ziele im Gazastreifen, die von israelischen Flugzeugen angegriffen wurden, grob in vier Kategorien einteilen. Die erste Kategorie sind "taktische Ziele", zu denen militärische Standardziele wie bewaffnete militante Zellen, Waffenlager, Raketenwerfer, Panzerabwehrraketen, Abschussrampen, Mörserbomben, militärische Hauptquartiere, Beobachtungsposten usw. gehören.

Das zweite Ziel sind "unterirdische Ziele" – hauptsächlich Tunnel, die die Hamas unter den Stadtvierteln von Gaza gegraben hat, auch unter zivilen Häusern. Luftangriffe auf diese Ziele können zum Einsturz der Häuser über oder in der Nähe der Tunnel führen.

Die dritte Kategorie sind "Energieziele", zu denen Hochhäuser und Wohntürme im Herzen der Städte sowie öffentliche Gebäude wie Universitäten, Banken und Regierungsbüros gehören. Laut drei Geheimdienstquellen, die in der Vergangenheit an der Planung oder Durchführung von Angriffen auf Energieziele beteiligt waren, steht hinter dem Angriff auf solche Ziele der Gedanke, dass ein gezielter Angriff auf die palästinensische Gesellschaft "zivilen Druck" auf die Hamas ausübt.

Die letzte Kategorie besteht aus "Familienwohnungen" oder "Wohnungen von Agenten". Erklärtes Ziel dieser Angriffe ist die Zerstörung von Privatwohnungen, um einen einzelnen Bewohner zu ermorden, der verdächtigt wird, ein Hamas- oder Islamischer Dschihad-Aktivist zu sein. Im aktuellen Krieg wurde jedoch nach palästinensischen Aussagen festgestellt, dass sich unter den getöteten Familien keine Mitglieder dieser Organisationen befanden.

In der Anfangsphase des aktuellen Krieges scheint die israelische Armee der dritten und vierten Kategorie von Zielen besondere Aufmerksamkeit geschenkt zu haben. Nach Angaben des IDF-Sprechers vom 11.Oktober wurde in den ersten fünf Tagen der Kämpfe die Hälfte der bombardierten Ziele – 1329 von insgesamt 2687 – als Energieziele eingestuft.

"Wir werden gebeten, nach Hochhäusern mit einem halben Stockwerk zu suchen, die der Hamas zugeordnet werden können", sagte eine Quelle, die an früheren israelischen Offensiven in Gaza teilgenommen hat. "Manchmal handelt es sich dabei um das Büro eines Sprechers einer militanten Gruppe oder um einen Treffpunkt, an dem sich Agenten treffen. Ich habe verstanden, dass das ein Vorwand ist, der es der Armee ermöglicht, in Gaza viel Zerstörung anzurichten. Das haben sie uns gesagt."

"Wenn sie der ganzen Welt sagen würden, dass die Büros [des Islamischen Dschihad] im 10.Stock nicht als Ziel wichtig sind, sondern dass ihre Existenz eine Rechtfertigung dafür ist, das gesamte Hochhaus zum Einsturz zu bringen, um Druck auf die dort lebenden zivilen Familien auszuüben, damit sie Druck auf die terroristischen Organisationen ausüben, würde dies als Terrorismus angesehen werden. Also sagen sie es nicht", fügte die Quelle hinzu.

Verschiedene Quellen, die in den Nachrichtendiensten der IDF dienten, sagten, dass zumindest bis zum aktuellen Krieg die Armeeprotokolle Angriffe auf Energieversorgungsziele nur zuließen, wenn die Gebäude zum Zeitpunkt des Angriffs leer waren. Zeugenaussagen und Videos aus dem Gazastreifen deuten jedoch darauf hin, dass seit dem 7. Oktober einige dieser Ziele angegriffen wurden, ohne dass die Bewohner vorher benachrichtigt wurden, wodurch ganze Familien getötet wurden.

Die weitreichenden Angriffe auf Wohnhäuser lassen sich aus öffentlichen und offiziellen Daten ableiten. Nach Angaben des Medienbüros der Regierung in Gaza – das seit dem 11.November aufgrund des Zusammenbruchs des Gesundheitswesens im Gazastreifen keine Todeszahlen mehr veröffentlicht – hatte Israel bis zum Beginn der vorübergehenden Waffenruhe am 23.November 14.800 Palästinenser in Gaza getötet, davon etwa 6000 Kinder und 4000 Frauen, die zusammen mehr als 67 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen. Die Zahlen des Gesundheitsministeriums und des Medienbüros der Regierung – die beide der Hamas-Regierung unterstehen – weichen nicht wesentlich von den israelischen Schätzungen ab.

Das Gesundheitsministerium im Gazastreifen macht auch keine Angaben darüber, wie viele der Toten dem militärischen Flügel der Hamas oder des Islamischen Dschihad angehörten. Die israelische Armee schätzt, dass sie zwischen 1000 und 3000 bewaffnete palästinensische Kämpfer getötet hat. Nach israelischen Medienberichten sind einige der toten Kämpfer unter den Trümmern oder im unterirdischen Tunnelsystem der Hamas begraben und wurden daher bei den offiziellen Zählungen nicht mitgezählt.

Die UN-Daten für den Zeitraum bis zum 11.November, als Israel 11.078 Palästinenser im Gazastreifen getötet hatte, besagen, dass mindestens 312 Familien zehn oder mehr Menschen bei dem aktuellen israelischen Angriff verloren haben. Zum Vergleich: Während der Operation "Protective Edge" im Jahr 2014 verloren 20 Familien im Gazastreifen zehn oder mehr Menschen. Mindestens 189 Familien haben den UN-Angaben zufolge zwischen sechs und neun Menschen verloren, während 549 Familien zwischen zwei und fünf Menschen verloren haben. Für die seit dem 11. November veröffentlichten Opferzahlen liegen noch keine aktualisierten Aufschlüsselungen vor.

Die massiven Angriffe auf Elektrizitätswerke und Privathäuser erfolgten zur gleichen Zeit, als die israelische Armee am 13.Oktober die 1,1 Millionen Bewohner des nördlichen Gazastreifens – die meisten von ihnen in Gaza-Stadt – aufforderte, ihre Häuser zu verlassen und in den Süden des Streifens zu ziehen. Zu diesem Zeitpunkt war bereits eine Rekordzahl von Zielen bombardiert und mehr als 1000 Palästinenser waren bereits getötet worden, darunter Hunderte von Kindern.

Insgesamt sind nach Angaben der UNO seit dem 7.Oktober 1,7 Millionen Palästinenser, die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung des Gazastreifens, innerhalb des Streifens vertrieben worden. Die Armee behauptet, dass die Aufforderung zur Evakuierung des Nordens des Gazastreifens dem Schutz der Zivilbevölkerung diente. Die Palästinenser sehen diese Massenvertreibung jedoch als Teil einer "neuen Nakba" – den Versuch, einen Teil oder das gesamte Gebiet ethnisch zu säubern.

"Sie haben ein Hochhaus um seiner selbst willen abgerissen"
Nach Angaben der israelischen Armee warf diese in den ersten fünf Tagen der Kämpfe 6000 Bomben mit einem Gesamtgewicht von etwa 4000 Tonnen auf den Gazastreifen ab. Medien berichteten, die Armee habe ganze Stadtviertel ausgelöscht. Nach Angaben des im Gazastreifen ansässigen Al-Mezan-Zentrums für Menschenrechte führten diese Angriffe zur "vollständigen Zerstörung von Wohnvierteln, zur Zerstörung der Infrastruktur und zur Massentötung von Bewohnern".

Wie von Al Mezan und zahlreichen Bildern aus Gaza dokumentiert, bombardierte Israel die Islamische Universität von Gaza, die Palästinensische Anwaltskammer, ein UN-Gebäude für ein Bildungsprogramm für herausragende Studenten, ein Gebäude der Palästinensischen Telekommunikationsgesellschaft, das Ministerium für Nationale Wirtschaft, das Kulturministerium, Straßen und Dutzende von Hochhäusern und Häusern – insbesondere in den nördlichen Stadtteilen von Gaza.

Am fünften Tag der Kämpfe verteilte der IDF-Sprecher an Militärreporter in Israel "Vorher-Nachher"-Satellitenbilder von Vierteln im Nordstreifen, wie Shuja'iyya und Al-Furqan (benannt nach einer Moschee in der Gegend) in Gaza-Stadt, die Dutzende von zerstörten Häusern und Gebäuden zeigten. Die israelische Armee erklärte, sie habe 182 Stromversorgungsziele in Shuja'iyya und 312 Stromversorgungsziele in Al-Furqan angegriffen.

Der Stabschef der israelischen Luftwaffe, Omer Tishler, erklärte gegenüber Militärreportern, dass alle diese Angriffe ein legitimes militärisches Ziel hatten, aber auch, dass ganze Stadtteile "in großem Umfang und nicht auf chirurgische Weise" angegriffen wurden. Der IDF-Sprecher wies darauf hin, dass die Hälfte der militärischen Ziele bis zum 11.Oktober Energieziele waren, und sagte, dass "Stadtteile, die der Hamas als Terrornester dienen", angegriffen wurden und dass Schäden an "operativen Hauptquartieren", "operativen Einrichtungen" und "Einrichtungen, die von terroristischen Organisationen in Wohngebäuden genutzt werden", verursacht wurden. Am 12.Oktober gab die israelische Armee bekannt, sie habe drei "hochrangige Hamas-Mitglieder" getötet, von denen zwei dem politischen Flügel der Gruppe angehörten.

Doch trotz des ungezügelten israelischen Bombardements scheint der Schaden an der militärischen Infrastruktur der Hamas im nördlichen Gazastreifen in den ersten Tagen des Krieges sehr gering gewesen zu sein. Nachrichtendienstliche Quellen erklärten gegenüber +972 und Local Call, dass militärische Ziele, die zu den Energiezielen gehörten, zuvor oft als Feigenblatt für die Schädigung der Zivilbevölkerung benutzt wurden. "Es gibt kein Gebäude, in dem nicht irgendetwas von der Hamas zu finden ist. Wenn man also einen Weg finden will, ein Hochhaus in ein Ziel zu verwandeln, kann man das tun", sagte ein ehemaliger Geheimdienstmitarbeiter.

"Sie werden niemals einfach ein Hochhaus angreifen, das nicht über etwas verfügt, das wir als militärisches Ziel definieren können", sagte eine andere Geheimdienstquelle, die schon früher Angriffe auf Machtziele durchgeführt hat. "Es wird immer eine Etage [der Hamas] in dem Hochhaus geben. Aber in den meisten Fällen, wenn es um Energieziele geht, ist klar, dass das Ziel keinen militärischen Wert hat, der einen Angriff rechtfertigt, der ein ganzes leeres Gebäude mitten in einer Stadt mit Hilfe von sechs Flugzeugen und tonnenschweren Bomben zum Einsturz bringt."

Laut Quellen, die in früheren Kriegen an der Zusammenstellung von Angriffszielen beteiligt waren, dient der Angriff auf ein Ziel in erster Linie als "Mittel, um die Zivilgesellschaft zu schädigen", auch wenn die Zieldatei in der Regel eine angebliche Verbindung zur Hamas oder anderen militanten Gruppen enthält. Die Quellen verstanden, einige explizit und einige implizit, dass die Schädigung von Zivilisten der eigentliche Zweck dieser Angriffe ist.

Im Mai 2021 wurde Israel beispielsweise heftig für die Bombardierung des Al-Jalaa-Turms kritisiert, in dem bekannte internationale Medien wie Al Jazeera, AP und AFP untergebracht waren. Die Armee behauptete, das Gebäude sei ein militärisches Ziel der Hamas gewesen; Quellen haben gegenüber +972 und Local Call erklärt, dass es sich in Wirklichkeit um ein Stromziel handelte.

"Man ist der Meinung, dass es der Hamas wirklich schadet, wenn Hochhäuser abgerissen werden, weil dies eine öffentliche Reaktion im Gazastreifen hervorruft und die Bevölkerung verängstigt", so eine der Quellen. "Sie wollen den Bürgern von Gaza das Gefühl geben, dass die Hamas die Situation nicht unter Kontrolle hat. Manchmal reißen sie Wohngebäude ein, manchmal Post- und Regierungsgebäude."

Die Dahiya-Doktrin
Obwohl es für die israelische Armee ein Novum ist, innerhalb von fünf Tagen mehr als 1000 Energieversorgungsziele anzugreifen, wurde die Idee, zivile Gebiete zu strategischen Zwecken massenhaft zu verwüsten, bereits bei früheren Militäroperationen im Gazastreifen formuliert und durch die so genannte "Dahiya-Doktrin" aus dem zweiten Libanonkrieg 2006 verfeinert.

Nach dieser Doktrin, die vom ehemaligen IDF-Stabschef Gadi Eizenkot entwickelt wurde, der jetzt Mitglied der Knesset und des derzeitigen Kriegskabinetts ist, muss Israel in einem Krieg gegen Guerillagruppen wie die Hamas oder die Hisbollah unverhältnismäßige und überwältigende Gewalt anwenden und dabei auf zivile und staatliche Infrastrukturen zielen, um Abschreckung zu schaffen und die Zivilbevölkerung zu zwingen, die Gruppen zur Einstellung ihrer Angriffe zu bewegen. Das Konzept der "Energieziele" scheint dieser Logik entsprungen zu sein.

Das erste Mal, dass die israelische Armee öffentlich Energieziele im Gazastreifen definierte, war am Ende der Operation "Protective Edge" im Jahr 2014. In den letzten vier Tagen des Krieges bombardierte die Armee vier Gebäude – drei mehrstöckige Wohngebäude in Gaza-Stadt und ein Hochhaus in Rafah. Der Sicherheitsapparat erklärte damals, die Angriffe sollten den Palästinensern im Gazastreifen vermitteln, dass "nichts mehr immun ist", und Druck auf die Hamas ausüben, einem Waffenstillstand zuzustimmen. "Die von uns gesammelten Beweise zeigen, dass die massive Zerstörung [der Gebäude] absichtlich und ohne jede militärische Rechtfertigung durchgeführt wurde", hieß es Ende 2014 in einem Amnesty-Bericht.

In einer weiteren gewalttätigen Eskalation, die im November 2018 begann, griff die Armee erneut Energieziele an. Diesmal bombardierte Israel Hochhäuser, Einkaufszentren und das Gebäude des der Hamas nahestehenden Fernsehsenders Al-Aqsa. "Der Angriff auf Energieziele hat eine sehr große Wirkung auf die andere Seite", erklärte ein Offizier der Luftwaffe damals. "Wir haben es geschafft, ohne jemanden zu töten, und wir haben dafür gesorgt, dass das Gebäude und seine Umgebung evakuiert wurden."

Frühere Operationen haben gezeigt, dass Angriffe auf diese Ziele nicht nur der palästinensischen Moral schaden, sondern auch die Moral innerhalb Israels verbessern sollen. Haaretz enthüllte, dass die IDF-Sprechereinheit während der Operation "Guardian of the Walls" im Jahr 2021 eine psychologische Operation gegen israelische Bürger durchführte, um das Bewusstsein für die IDF-Operationen im Gazastreifen und die Schäden, die sie den Palästinensern zufügten, zu schärfen. Soldaten, die gefälschte Social-Media-Konten benutzten, um den Ursprung der Kampagne zu verschleiern, luden Bilder und Clips von den Angriffen der Armee in Gaza auf Twitter, Facebook, Instagram und TikTok hoch, um der israelischen Öffentlichkeit die Fähigkeiten der Armee zu demonstrieren.

Während des Angriffs im Jahr 2021 traf Israel neun Ziele, die als Energieziele definiert waren – allesamt Hochhäuser. "Das Ziel war, die Hochhäuser zum Einsturz zu bringen, um Druck auf die Hamas auszuüben und auch, damit die [israelische] Öffentlichkeit ein Bild des Sieges sieht", sagte eine Sicherheitsquelle gegenüber +972 und Local Call.

Aber, so die Quelle weiter, "es hat nicht funktioniert. Als jemand, der die Hamas verfolgt hat, habe ich aus erster Hand erfahren, wie wenig sie sich um die Zivilbevölkerung und die zerstörten Gebäude kümmerten. Manchmal fand die Armee in einem Hochhaus etwas, das mit der Hamas in Verbindung stand, aber es wäre auch möglich gewesen, dieses spezifische Ziel mit präziseren Waffen zu treffen. Unterm Strich haben sie ein Hochhaus um des Hochhauses willen abgerissen."

"Jeder sucht seine Kinder in diesen Haufen"
Im gegenwärtigen Krieg hat Israel nicht nur eine noch nie dagewesene Anzahl von Energieversorgungszielen angegriffen, die Armee hat auch ihre frühere Politik aufgegeben, Schaden von der Zivilbevölkerung abzuwenden. Während früher die offizielle Vorgehensweise der Armee darin bestand, Stromziele erst dann anzugreifen, wenn alle Zivilisten evakuiert worden waren, zeigen Zeugenaussagen von palästinensischen Einwohnern im Gazastreifen, dass Israel seit dem 7.Oktober Hochhäuser angreift, in denen sich die Bewohner noch befinden und ohne nennenswerte Schritte zu ihrer Evakuierung unternommen zu haben, was zu zahlreichen zivilen Todesfällen führte.

Bei solchen Angriffen werden sehr oft ganze Familien getötet, wie bei früheren Offensiven zu beobachten war. Laut einer nach dem Krieg von 2014 durchgeführten AP-Untersuchung waren etwa 89 Prozent der bei Luftangriffen auf Familienhäuser Getöteten unbewaffnete Bewohner, die meisten von ihnen Kinder und Frauen.

Tishler, der Stabschef der Luftwaffe, bestätigte die Änderung der Politik und erklärte gegenüber Reportern, dass die "Dachklopfer"-Politik der Armee – bei der die Armee einen kleinen Erstschlag auf das Dach eines Gebäudes abfeuert, um die Bewohner zu warnen, dass es bald angegriffen wird – nicht mehr angewendet wird, "wenn es einen Feind gibt". "Roof knocking", so Tishler, sei "ein Begriff, der sich auf Kampfhandlungen bezieht und nicht auf den Krieg."

Die Quellen, die zuvor an Energiezielen gearbeitet haben, sagten, dass die dreiste Strategie des aktuellen Krieges eine gefährliche Entwicklung sein könnte und erklärten, dass die Angriffe auf Energieziele ursprünglich dazu gedacht waren, den Gazastreifen zu "schockieren", aber nicht unbedingt, eine große Anzahl von Zivilisten zu töten. "Die Ziele wurden unter der Annahme entworfen, dass die Hochhäuser evakuiert werden würden. Als wir also daran arbeiteten, [die Ziele zusammenzustellen], gab es keinerlei Bedenken, wieviele Zivilisten zu Schaden kommen würden; die Annahme war, dass die Zahl immer gleich Null sein würde", sagte eine Quelle, die mit der Taktik bestens vertraut ist.

"Das würde bedeuten, dass es eine vollständige Evakuierung [der anvisierten Gebäude] gibt, die zwei bis drei Stunden dauert. Während dieser Zeit werden die Bewohner [telefonisch zur Evakuierung] aufgerufen, es werden Warnraketen abgefeuert und wir überprüfen mit Drohnenaufnahmen, ob die Menschen tatsächlich das Hochhaus verlassen", so die Quelle weiter.

Beweise aus dem Gazastreifen deuten jedoch darauf hin, dass einige Hochhäuser – bei denen wir davon ausgehen, dass es sich um Energieziele handelte – ohne Vorwarnung zum Einsturz gebracht wurden. +972 und Local Call haben mindestens zwei Fälle während des aktuellen Krieges ausfindig gemacht, in denen ganze Wohnhochhäuser ohne Vorwarnung bombardiert wurden und einstürzten, in einem Fall stürzte den Beweisen zufolge ein Hochhaus auf Zivilisten ein, die sich darin befanden.

Am 10.Oktober bombardierte Israel das Babel-Gebäude im Gazastreifen, so die Aussage von Bilal Abu Hatzira, der in dieser Nacht Leichen aus den Trümmern rettete. Bei dem Angriff auf das Gebäude wurden zehn Menschen getötet, darunter drei Journalisten.

Am 25.Oktober wurde das 12stöckige Wohngebäude Al-Taj in Gaza-Stadt ohne Vorwarnung in die Luft gesprengt, wobei die darin lebenden Familien ums Leben kamen. Etwa 120 Menschen wurden unter den Trümmern ihrer Wohnungen begraben, wie die Bewohner berichteten. Yousef Amar Sharaf, ein Bewohner von Al-Taj, schrieb auf X, dass 37 seiner Familienmitglieder, die in dem Gebäude lebten, bei dem Angriff getötet wurden: "Mein lieber Vater und meine liebe Mutter, meine geliebte Frau, meine Söhne und die meisten meiner Brüder und deren Familien." Anwohner erklärten, dass viele Bomben abgeworfen wurden, die auch Wohnungen in benachbarten Gebäuden beschädigten und zerstörten.

Sechs Tage später, am 31.Oktober, wurde das achtstöckige Wohngebäude Al-Mohandseen ohne Vorwarnung bombardiert. Berichten zufolge wurden bereits am ersten Tag zwischen 30 und 45 Leichen aus den Trümmern geborgen. Ein Baby wurde lebend und ohne seine Eltern gefunden. Journalisten schätzten, dass über 150 Menschen bei dem Angriff getötet wurden, da viele unter den Trümmern begraben blieben.

Das Gebäude stand früher im Flüchtlingslager Nuseirat südlich des Wadi Gaza – in der angeblich "sicheren Zone", in die Israel die Palästinenser, die aus ihren Häusern im nördlichen und zentralen Gazastreifen geflohen waren, verwiesen hatte – und diente daher laut Zeugenaussagen als vorübergehende Unterkunft für die Vertriebenen.

Nach einer Untersuchung von Amnesty International beschoss Israel am 9.Oktober mindestens drei mehrstöckige Gebäude sowie einen offenen Flohmarkt an einer belebten Straße im Flüchtlingslager Jabaliya und tötete dabei mindestens 69 Menschen. "Die Leichen waren verbrannt … Ich wollte nicht hinsehen, ich hatte Angst, das Gesicht von Imad zu sehen", sagte der Vater eines getöteten Kindes. "Die Leichen lagen verstreut auf dem Boden. Jeder suchte nach seinen Kindern in diesen Haufen. Ich erkannte meinen Sohn nur an seiner Hose. Ich wollte ihn sofort begraben, also trug ich meinen Sohn und holte ihn heraus." Der Untersuchung von Amnesty zufolge erklärte die Armee, der Angriff auf den Markt habe einer Moschee gegolten, "in der sich Hamas-Aktivisten aufhielten". Derselben Untersuchung zufolge zeigen Satellitenbilder jedoch keine Moschee in der Nähe.

Der IDF-Sprecher ging nicht auf die Fragen von +972 und Local Call zu bestimmten Angriffen ein, sondern erklärte ganz allgemein, dass "die IDF vor den Angriffen auf verschiedene Weise warnt und, wenn die Umstände es zulassen, auch individuelle Warnungen durch Telefonanrufe an Personen übermittelt, die sich an oder in der Nähe der Ziele befinden (während des Krieges gab es mehr als 25.000 Live-Gespräche, neben Millionen von aufgezeichneten Gesprächen, Textnachrichten und aus der Luft abgeworfenen Flugblättern zum Zweck der Warnung der Bevölkerung). Generell bemühen sich die IDF, den Schaden für die Zivilbevölkerung im Rahmen der Angriffe so gering wie möglich zu halten, obwohl es eine Herausforderung ist, eine Terrororganisation zu bekämpfen, die die Bürger des Gazastreifens als menschliche Schutzschilde benutzt."

Die Maschine produzierte 100 Ziele an einem Tag
Nach Angaben des IDF-Sprechers hat Israel in den ersten 35 Tagen der Kämpfe bis zum 10.November insgesamt 15.000 Ziele in Gaza angegriffen. Laut mehreren Quellen ist dies eine sehr hohe Zahl im Vergleich zu den vier vorangegangenen großen Operationen im Gazastreifen. Während der Operation "Guardian of the Walls" im Jahr 2021 griff Israel in 11 Tagen 1500 Ziele an. Bei der Operation "Protective Edge" im Jahr 2014, die 51 Tage dauerte, traf Israel zwischen 5.266 und 6.231 Ziele. Während der "Säule der Verteidigung" im Jahr 2012 wurden in acht Tagen etwa 1500 Ziele angegriffen. Bei "Gegossenes Blei" im Jahr 2008 schlug Israel in 22 Tagen 3400 Ziele an.

Nachrichtendienstliche Quellen, die an früheren Operationen beteiligt waren, berichteten +972 und Local Call, dass eine Angriffsrate von 100 bis 200 Zielen pro Tag im Jahr 2021 und drei Wochen im Jahr 2014 dazu führte, dass die israelische Luftwaffe keine Ziele von militärischem Wert mehr hatte. Warum sind der israelischen Armee dann nach fast zwei Monaten im aktuellen Krieg noch nicht die Ziele ausgegangen?

Die Antwort könnte in einer Erklärung des IDF-Sprechers vom 2.November zu finden sein, wonach die IDF das KI-System Habsora ("Das Evangelium") einsetzt, das, so der Sprecher, "den Einsatz automatischer Werkzeuge zur schnellen Erstellung von Zielen ermöglicht und auf Grund der Verbesserung von präzisem und qualitativ hochwertigem Informationsmaterial entsprechend den [operativen] Bedürfnissen funktioniert."

In der Erklärung wird ein hochrangiger Geheimdienstmitarbeiter mit den Worten zitiert, dass dank Habsora Ziele für Präzisionsschläge geschaffen werden, "die dem Feind großen Schaden, Nichtkombattanten aber nur minimalen Schaden zufügen. Hamas-Aktivisten sind nicht immun – egal, wo sie sich verstecken".

Geheimdienstquellen zufolge generiert Habsora unter anderem automatische Empfehlungen für Angriffe auf Privatwohnungen, in denen Personen leben, die verdächtigt werden, Aktivisten der Hamas oder des Islamischen Dschihad zu sein. Israel führt dann groß angelegte Tötungsoperationen durch schweren Beschuss dieser Wohnhäuser durch.

Habsora, so eine der Quellen, verarbeitet enorme Datenmengen, die "Zehntausende von Geheimdienstoffizieren nicht verarbeiten könnten", und empfiehlt Bombenstandorte in Echtzeit. Da sich die meisten hochrangigen Hamas-Funktionäre zu Beginn einer Militäroperation in unterirdische Tunnel zurückziehen, ermöglicht der Einsatz eines Systems wie Habsora das Aufspüren und Angreifen der Häuser von relativ unbedeutenden Agenten, so die Quellen.

Ein ehemaliger Geheimdienstoffizier erklärte, dass das Habsora-System die Armee in die Lage versetzt, eine "Massenmordfabrik" zu betreiben, in der "der Schwerpunkt auf der Quantität und nicht auf der Qualität liegt". Ein menschliches Auge "wird die Ziele vor jedem Angriff durchgehen, aber es muss nicht viel Zeit auf sie verwenden". Da Israel die Zahl der Hamas-Mitglieder im Gazastreifen auf etwa 30.000 schätzt und sie alle zum Tode verurteilt sind, ist die Zahl der möglichen Ziele enorm.

2019 richtete die israelische Armee ein neues Zentrum ein, das mit Hilfe von KI die Zielgenerierung beschleunigen soll. "Die Verwaltungsabteilung für Ziele ist eine Einheit, die Hunderte von Offizieren und Soldaten umfasst und auf KI-Fähigkeiten basiert", sagte der ehemalige IDF-Stabschef Aviv Kochavi in einem ausführlichen Interview mit Ynet Anfang des Jahres.

"Dies ist eine Maschine, die mit Hilfe von KI viele Daten besser und schneller als jeder Mensch verarbeitet und in Angriffsziele umwandelt", so Kochavi weiter. "Das Ergebnis war, dass diese Maschine bei der Operation "Guardian of the Walls" [im Jahr 2021] von dem Moment an, als sie aktiviert wurde, jeden Tag 100 neue Ziele generierte. Sehen Sie, in der Vergangenheit gab es in Gaza Zeiten, in denen wir 50 Ziele pro Jahr geschaffen haben. Und hier produzierte die Maschine 100 Ziele an einem Tag."

"Wir bereiten die Zielscheiben automatisch vor und arbeiten nach einer Checkliste", so eine der Quellen, die in der neuen Verwaltungsabteilung für Zielscheiben arbeiten, gegenüber +972 und Local Call. "Es ist wirklich wie in einer Fabrik. Wir arbeiten schnell, und es bleibt keine Zeit, sich eingehend mit dem Ziel zu befassen. Wir werden danach beurteilt, wie viele Ziele wir erreichen können."

Ein hochrangiger Militärbeamter, der für die Zielbank zuständig ist, sagte der Jerusalem Post Anfang des Jahres, dass das Militär dank der KI-Systeme der Armee zum ersten Mal in der Lage ist, neue Ziele schneller zu generieren, als es selbst angreift. Eine andere Quelle sagte, das Bestreben, automatisch eine große Anzahl von Zielen zu generieren, sei eine Umsetzung der Dahiya-Doktrin.

Automatisierte Systeme wie Habsora haben somit die Arbeit der israelischen Geheimdienstmitarbeiter bei der Entscheidungsfindung während der militärischen Operationen, einschließlich der Berechnung möglicher Opfer, erheblich erleichtert. Fünf verschiedene Quellen bestätigten, dass die Zahl der Zivilisten, die bei Angriffen auf Privathäuser getötet werden könnten, dem israelischen Geheimdienst im voraus bekannt ist und in der Zieldatei eindeutig unter der Kategorie "Kollateralschäden" erscheint.

Diesen Quellen zufolge gibt es verschiedene Grade von Kollateralschäden, nach denen die Armee entscheidet, ob es möglich ist, ein Ziel in einem Privathaus anzugreifen. "Wenn die allgemeine Anweisung 'Kollateralschaden 5' lautet, bedeutet dies, dass wir befugt sind, alle Ziele anzugreifen, bei denen fünf oder weniger Zivilisten getötet werden – wir können alle Zieldateien angreifen, die fünf oder weniger Personen betreffen", so eine der Quellen.

"In der Vergangenheit haben wir nicht regelmäßig die Häuser von jüngeren Hamas-Mitgliedern für Bombenangriffe markiert", sagte ein Sicherheitsbeamter, der bei früheren Operationen an Angriffen auf Ziele beteiligt war. "Wenn zu meiner Zeit das Haus, an dem ich arbeitete, als Kollateralschaden 5 gekennzeichnet war, wurde es nicht immer [für den Angriff] genehmigt." Eine solche Genehmigung sei nur dann erteilt worden, wenn bekannt war, dass ein hochrangiger Hamas-Kommandeur in dem Haus wohnte.

"Soweit ich weiß, können sie heute alle Häuser [aller Hamas-Militärangehörigen, unabhängig von ihrem Rang] markieren", so die Quelle weiter. "Das sind eine Menge Häuser. Hamas-Mitglieder, die nicht wirklich von Bedeutung sind, leben in Häusern in ganz Gaza. Also markieren sie das Haus, bombardieren es und töten alle Bewohner."

Eine gezielte Politik zur Bombardierung von Familienhäusern
Am 22.Oktober bombardierte die israelische Luftwaffe das Haus des palästinensischen Journalisten Ahmed Alnaouq in der Stadt Deir al-Balah. Ahmed ist ein enger Freund und Kollege von mir. Vor vier Jahren gründeten wir eine hebräische Facebook-Seite mit dem Namen "Across the Wall" (Über die Mauer) mit dem Ziel, palästinensische Stimmen aus dem Gazastreifen an die israelische Öffentlichkeit zu bringen.

Bei dem Anschlag am 22.Oktober stürzten Betonblöcke auf Ahmeds gesamte Familie und töteten seinen Vater, seine Brüder, Schwestern und alle ihre Kinder, einschließlich der Babys. Nur seine 12jährige Nichte Malak überlebte und blieb in einem kritischen Zustand, ihr Körper war mit Verbrennungen übersät. Ein paar Tage später starb Malak. Insgesamt wurden einundzwanzig Mitglieder von Ahmeds Familie getötet und unter ihrem Haus begraben. Keiner von ihnen war ein Kämpfer. Der Jüngste war zwei Jahre alt, der Älteste, sein Vater, 75 Jahre alt. Ahmed, der derzeit im Vereinigten Königreich lebt, ist nun der Einzige in seiner Familie.

Ahmeds Familien-WhatsApp-Gruppe trägt den Titel "Better Together". Die letzte Nachricht, die dort erscheint, wurde von ihm kurz nach Mitternacht in der Nacht, in der er seine Familie verlor, gesendet. "Jemand hat mich wissen lassen, dass alles in Ordnung ist", schrieb er. Es antwortete niemand. Er schlief ein, wachte aber um 4 Uhr morgens panisch auf. Schweißgebadet überprüfte er erneut sein Telefon. Stille. Dann erhielt er von einem Freund die schreckliche Nachricht.

Ahmeds Fall ist in diesen Tagen in Gaza alltäglich. In Interviews mit der Presse haben die Leiter der Krankenhäuser im Gazastreifen immer wieder dieselbe Beschreibung gegeben: Familien kommen als eine Reihe von Leichen in die Krankenhäuser, ein Kind, gefolgt von seinem Vater, gefolgt von seinem Großvater. Die Leichen sind alle mit Schmutz und Blut bedeckt.

Ehemaligen israelischen Geheimdienstoffizieren zufolge ist in vielen Fällen, in denen ein Privathaus bombardiert wird, das Ziel die "Ermordung von Hamas- oder Dschihad-Agenten", und solche Ziele werden angegriffen, wenn der Agent das Haus betritt. Die Nachrichtendienstler wissen, ob die Familienmitglieder oder Nachbarn des Agenten bei einem Anschlag ebenfalls ums Leben kommen können, und sie können berechnen, wie viele von ihnen sterben könnten. Jede der Quellen sagte, dass es sich um Privathäuser handelt, in denen in der Mehrzahl der Fälle keine militärischen Aktivitäten durchgeführt werden.

+972 und Local Call liegen keine Daten über die Zahl der Militärangehörigen vor, die bei Luftangriffen auf Privathäuser im gegenwärtigen Krieg getötet oder verwundet wurden, aber es gibt zahlreiche Beweise dafür, dass es sich in vielen Fällen nicht um militärische oder politische Angehörige der Hamas oder des Islamischen Dschihad handelte.

Am 10.Oktober bombardierte die israelische Luftwaffe ein Wohnhaus im Gaza-Viertel Sheikh Radwan und tötete 40 Menschen, die meisten von ihnen Frauen und Kinder. In einem der schockierenden Videos, die nach dem Angriff aufgenommen wurden, sind schreiende Menschen zu sehen, die eine Puppe in der Hand halten, die aus den Trümmern des Hauses geborgen wurde, und sie von Hand zu Hand weiterreichen. Wenn die Kamera heranzoomt, kann man sehen, dass es sich nicht um eine Puppe, sondern um den Körper eines Babys handelt.

Einer der Anwohner sagte, 19 Mitglieder seiner Familie seien bei dem Angriff getötet worden. Ein anderer Überlebender schrieb auf Facebook, er habe nur die Schulter seines Sohnes in den Trümmern gefunden. Amnesty untersuchte den Angriff und fand heraus, dass ein Hamas-Mitglied in einem der oberen Stockwerke des Gebäudes wohnte, aber zum Zeitpunkt des Angriffs nicht anwesend war.

Die Bombardierung von Familienhäusern, in denen vermutlich Aktivisten der Hamas- oder des Islamischen Dschihad leben, wurde wahrscheinlich während der Operation "Protective Edge" im Jahr 2014 zu einer gezielten Politik der IDF entwickelt. Damals waren 606 Palästinenser – etwa ein Viertel der zivilen Todesopfer in den 51 Kampftagen – Mitglieder von Familien, deren Häuser bombardiert wurden. Ein UN-Bericht bezeichnete dies 2015 sowohl als potenzielles Kriegsverbrechen als auch als "ein neues Handlungsmuster", das "zum Tod ganzer Familien führte".

Im Jahr 2014 wurden 93 Säuglinge durch israelische Bombardierungen von Familienhäusern getötet, davon 13 unter einem Jahr. Vor einem Monat wurden bereits 286 Babys im Alter von bis zu einem Jahr als im Gazastreifen getötet identifiziert, wie aus einer detaillierten ID-Liste mit dem Alter der Opfer hervorgeht, die das Gesundheitsministerium im Gazastreifen am 26.Oktober veröffentlichte. Die Zahl hat sich seitdem wahrscheinlich verdoppelt oder verdreifacht.

In vielen Fällen, insbesondere bei den aktuellen Angriffen auf den Gazastreifen, hat die israelische Armee auch dann Angriffe auf Privatwohnungen durchgeführt, wenn es kein bekanntes oder eindeutiges militärisches Ziel gab. So hat Israel nach Angaben des Komitees zum Schutz von Journalisten bis zum 29.November 50 palästinensische Journalisten in Gaza getötet, einige von ihnen in ihren Häusern und bei ihren Familien.

Roshdi Sarraj, 31, ein Journalist aus Gaza, der in Großbritannien geboren wurde, gründete in Gaza ein Medienunternehmen namens "Ain Media". Am 22.Oktober wurde das Haus seiner Eltern, in dem er schlief, von einer israelischen Bombe getroffen, die ihn tötete. Die Journalistin Salam Mema starb ebenfalls unter den Trümmern ihres Hauses, nachdem es bombardiert worden war; von ihren drei kleinen Kindern starb Hadi, 7, während Sham, 3, noch nicht unter den Trümmern gefunden wurde. Zwei weitere Journalisten, Duaa Sharaf und Salma Makhaimer, wurden zusammen mit ihren Kindern in ihren Häusern getötet.

Israelische Analysten haben zugegeben, dass die militärische Wirksamkeit dieser Art von unverhältnismäßigen Luftangriffen begrenzt ist. Zwei Wochen nach dem Beginn der Bombardierungen im Gazastreifen (und vor der Bodeninvasion) – nachdem die Leichen von 1903 Kindern, etwa 1000 Frauen und 187 älteren Männern im Gazastreifen gezählt worden waren – twitterte der israelische Kommentator Avi Issacharoff: "So schwer es auch zu hören ist, am 14.Tag der Kämpfe sieht es nicht so aus, als ob der militärische Arm der Hamas signifikant geschädigt wurde. Der größte Schaden für ihre militärische Führung ist die Ermordung von [Hamas-Kommandeur] Ayman Nofal."

"Kämpfende menschliche Tiere"
Militante Hamas-Kämpfer operieren regelmäßig aus einem komplizierten Tunnelnetz heraus, das unter großen Teilen des Gazastreifens gebaut wurde. Wie die ehemaligen israelischen Geheimdienstoffiziere, mit denen wir sprachen, bestätigten, verlaufen diese Tunnel auch unter Häusern und Straßen. Daher führen israelische Versuche, sie mit Luftangriffen zu zerstören, in vielen Fällen wahrscheinlich zur Tötung von Zivilisten. Dies könnte ein weiterer Grund für die hohe Zahl palästinensischer Familien sein, die bei der derzeitigen Offensive ausgelöscht werden.

Die für diesen Artikel befragten Geheimdienstoffiziere sagten, dass die Art und Weise, wie die Hamas das Tunnelnetz im Gazastreifen entworfen hat, bewusst die Zivilbevölkerung und die oberirdische Infrastruktur ausnutzt. Diese Behauptungen waren auch die Grundlage der Medienkampagne, die Israel im Hinblick auf die Angriffe und Razzien auf das Al-Shifa-Krankenhaus und die darunter entdeckten Tunnel führte.

Israel hat auch zahlreiche militärische Ziele angegriffen: bewaffnete Hamas-Aktivisten, Raketenabschussrampen, Scharfschützen, Panzerabwehrtrupps, militärische Hauptquartiere, Stützpunkte, Beobachtungsposten und vieles mehr. Seit Beginn der Bodeninvasion werden die israelischen Truppen am Boden durch Luftangriffe und schweren Artilleriebeschuss unterstützt. Nach Ansicht von Völkerrechtsexperten sind diese Ziele legitim, solange die Angriffe dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen.

Auf eine Anfrage von +972 und Local Call für diesen Artikel erklärte der IDF-Sprecher: "Die IDF ist dem Völkerrecht verpflichtet und handelt danach, wobei sie militärische Ziele angreift und keine Zivilisten attackiert. Die terroristische Organisation Hamas platziert ihre Agenten und militärischen Einrichtungen mitten in der Zivilbevölkerung. Die Hamas nutzt die Zivilbevölkerung systematisch als menschliches Schutzschild und führt ihre Kämpfe von zivilen Gebäuden aus, darunter auch von sensiblen Orten wie Krankenhäusern, Moscheen, Schulen und UN-Einrichtungen."

Geheimdienstquellen, die mit +972 und Local Call sprachen, behaupteten ebenfalls, dass die Hamas in vielen Fällen "die Zivilbevölkerung in Gaza absichtlich gefährdet und versucht, Zivilisten mit Gewalt an der Evakuierung zu hindern". Zwei Quellen sagten, die Hamas-Führer würden "verstehen, dass die israelische Schädigung von Zivilisten ihnen eine Legitimation für ihre Kämpfe gibt".

Gleichzeitig war die Vorstellung, eine Ein-Tonnen-Bombe abzuwerfen, die einen Hamas-Aktivisten töten sollte, dabei aber eine ganze Familie als "Kollateralschaden" tötet, in weiten Teilen der israelischen Gesellschaft nicht immer so leicht zu akzeptieren, auch wenn es heute schwer vorstellbar ist. Im Jahr 2002 beispielsweise bombardierte die israelische Luftwaffe das Haus von Salah Mustafa Muhammad Shehade, dem damaligen Chef der Al-Qassam-Brigaden, dem militärischen Flügel der Hamas. Die Bombe tötete ihn, seine Frau Eman, seine 14jährige Tochter Laila und 14 weitere Zivilisten, darunter 11 Kinder. Die Tötung löste sowohl in Israel als auch in der Weltöffentlichkeit einen Aufschrei aus, und Israel wurde beschuldigt, Kriegsverbrechen begangen zu haben.

Diese Kritik führte dazu, dass die israelische Armee 2003 beschloss, eine kleinere Vierteltonnenbombe auf ein Treffen hochrangiger Hamas-Vertreter – einschließlich des schwer fassbaren Anführers der Al-Qassam-Brigaden, Mohammed Deif – in einem Wohnhaus in Gaza abzuwerfen, obwohl sie befürchtete, dass die Bombe nicht stark genug sein würde, um sie zu töten. In seinem Buch "To Know Hamas" schreibt der erfahrene israelische Journalist Shlomi Eldar, dass die Entscheidung, eine relativ kleine Bombe zu verwenden, auf den Präzedenzfall Shehade und die Befürchtung zurückzuführen war, dass eine Ein-Tonnen-Bombe auch die Zivilisten in dem Gebäude töten würde. Der Anschlag schlug fehl, und die ranghohen Offiziere des militärischen Flügels flohen vom Tatort.

Im Dezember 2008, im ersten großen Krieg, den Israel nach der Machtübernahme im Gazastreifen gegen die Hamas führte, sagte Yoav Gallant, der damals das IDF-Südkommando leitete, Israel habe zum ersten Mal "die Familienhäuser" hochrangiger Hamas-Funktionäre mit dem Ziel angegriffen, sie zu zerstören, aber nicht ihre Familien zu verletzen. Gallant betonte, die Häuser wurden angegriffen, nachdem die Familien durch ein "Klopfen auf dem Dach" sowie durch einen Telefonanruf gewarnt worden waren, nachdem klar war, dass im Haus militärische Aktivitäten der Hamas stattfanden.

Nach dem "Protective Edge" von 2014, bei dem Israel begann, systematisch Familienhäuser aus der Luft anzugreifen, sammelten Menschenrechtsgruppen wie B'Tselem Aussagen von Palästinensern, die diese Angriffe überlebt hatten. Die Überlebenden sagten, die Häuser seien in sich zusammengestürzt, Glasscherben hätten die Körper der Bewohner zerschnitten, die Trümmer hätten "nach Blut gerochen" und die Menschen seien lebendig begraben worden.

Diese tödliche Politik wird bis heute fortgesetzt – zum Teil dank des Einsatzes zerstörerischer Waffen und hochentwickelter Technologie wie Habsora, aber auch dank eines politischen und sicherheitspolitischen Establishments, das die Zügel der israelischen Militärmaschinerie gelockert hat. Fünfzehn Jahre nachdem er darauf bestanden hatte, dass die Armee darauf bedacht sei, den Schaden für die Zivilbevölkerung so gering wie möglich zu halten, hat Gallant, der jetzt Verteidigungsminister ist, seine Haltung eindeutig geändert. "Wir kämpfen gegen menschliche Tiere, und wir handeln entsprechend", sagte er nach dem 7.Oktober.

30.November 2023
Yuval Abraham ist Journalist und Aktivist und lebt in Jerusalem.

Quelle: https://www.972mag.com/mass-assassination-factory-israel-calculated-bombing-gaza/

Print Friendly, PDF & Email
Teile diesen Beitrag:
Kommentar zu diesem Artikel hinterlassen

Spenden

Die SoZ steht online kostenlos zur Verfügung. Dahinter stehen dennoch Arbeit und Kosten. Wir bitten daher vor allem unsere regelmäßigen Leserinnen und Leser um eine Spende auf das Konto: Verein für solidarische Perspektiven, Postbank Köln, IBAN: DE07 3701 0050 0006 0395 04, BIC: PBNKDEFF


Schnupperausgabe

Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo.