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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 01/2025

Zwänge und Widersprüche des postsowjetischen Rentierkapitalismus
von Wolodymyr Ischtschenko

Der Einmarsch in die Ukraine ist nicht einfach ein Produkt des Expansionsbestrebens von Wladimir Putin. Sie entspricht einem Projekt des russischen Kapitalismus, das er und seine Verbündeten seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion verfolgt haben, schreibt Wolodymyr Ischtschenko.

Der Autor ist Soziologe und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Osteuropa-Institut der FU Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte sind soziale Proteste und Bewegungen in der Ukraine. 2024 erschien sein Buch ­Towards the Abyss. Ukraine from Maidan to War (London: Verso)

Putin ist weder ein machthungriger Verrückter, noch ein ideologischer Eiferer, noch ein Wahnsinniger. Mit dem Krieg in der Ukraine schützt er die rationalen kollektiven Interessen der russischen herrschenden Klasse. Es ist nicht ungewöhnlich, dass sich die kollektiven Klasseninteressen nur teilweise mit den Interessen der einzelnen Vertreter dieser Klasse überschneiden oder ihnen sogar widersprechen. Aber welche Klasse regiert eigentlich Russland – und was sind ihre kollektiven Interessen?

Historisch gesehen fand die »ursprüngliche Akkumulation« während des zentrifugalen Zerfalls des sowjetischen Staates und der sowjetischen Wirtschaft statt. Der Politikwissenschaftler Steven Solnick nannte diesen Prozess »Diebstahl des Staates«.
Die Mitglieder der neuen herrschenden Klasse privatisierten entweder Staatseigentum (oft »für ’n Appel und ’n Ei«) oder bekamen reichlich Gelegenheit, Gewinne aus formal öffentlichen Einrichtungen in private Hände zu lenken. Sie nutzten informelle Beziehungen zu Staatsbeamten und die oft absichtlich geschaffenen, rechtlichen Schlupflöcher für massive Steuerhinterziehung und Kapitalflucht, während sie gleichzeitig feindliche Unternehmensübernahmen organisierten, um kurzfristig schnelle Gewinne zu erzielen.
Der russische Wirtschaftswissenschaftler Ruslan Dsarassow hat diese Praxis als »Insiderrente« analysiert: Dank ihrer Kontrolle über die Finanzströme der Unternehmen erzielen Insider Einkünfte mit rentenähnlichem Charakter, die von ihren Beziehungen zu den Machthabern abhängen. Solche Praktiken sind sicher auch in anderen Teilen der Welt anzutreffen, aber ihre Rolle bei der Herausbildung und Reproduktion der russischen herrschenden Klasse ist aufgrund der Art der postsowjetischen Transformation, die mit dem zentrifugalen Zusammenbruch des Staatssozialismus und der anschließenden politisch-ökonomischen Rekonsolidierung auf klientelistischer Basis begann, weitaus wichtiger.
Andere prominente Denker, wie der ungarische Soziologe Iván Szelényi, beschreiben ein ähnliches Phänomen als »politischen Kapitalismus«. In Anlehnung an Max Weber kennzeichnet den politischen Kapitalismus die Ausnutzung politischer Ämter zur Anhäufung von privatem Reichtum. Ich würde die politischen Kapitalisten als den Teil der Kapitalistenklasse bezeichnen, dessen wichtigster Wettbewerbsvorteil in selektiven staatlichen Privilegien besteht, im Gegensatz zu den Kapitalisten, deren Vorteil sich auf technologische Innovationen oder besonders billige Arbeitskräfte gründet.
Politische Kapitalisten gibt es nicht nur in den postsowjetischen Ländern, aber sie florieren hauptsächlich in den Bereichen, in denen der Staat traditionell die dominierende Rolle in der Wirtschaft spielt und ein immenses Kapital angehäuft hat, das nun für die private Ausbeutung offen ist.
Das Konzept des politischen Kapitalismus ist entscheidend, um zu verstehen, warum der Kreml, wenn er von »Souveränität« oder »Einflusssphären« spricht, nicht irrational von überholten Konzepten besessen ist. Zugleich ist diese Rhetorik nicht unbedingt Ausdruck des nationalen Interesses Russlands, vielmehr spiegelt sie direkt die Klasseninteressen der russischen politischen Kapitalisten wider.
Wenn Vorzugsbehandlungen durch den Staat für die Anhäufung von Reichtum von grundlegender Bedeutung sind, haben diese Kapitalisten keine andere Wahl, als das Gebiet abzustecken, über das sie eine monopolistische Kontrolle ausüben und die sie mit keinem anderen Teil der Kapitalistenklasse teilen dürfen.

Innere Widersprüche
Normalerweise greift die Bourgeoisie in kapitalistischen Staaten nicht direkt in die Leitung des Staates ein. Die staatliche Bürokratie genießt in der Regel weitgehende Autonomie von der Kapitalistenklasse, dient ihr aber, indem sie Regeln aufstellt und durchsetzt, die der kapitalistischen Akkumulation zugute kommen. Politische Kapitalisten hingegen verlangen keine allgemeinen Regeln, sondern eine strenge Kontrolle über die politischen Entscheidungsträger. Oder sie besetzen selbst politische Ämter und nutzen sie zur privaten Bereicherung.
Viele Ikonen des klassischen unternehmerischen Kapitalismus haben von staatlichen Subventionen, steuerlichen Vorzugsregelungen oder verschiedenen protektionistischen Maßnahmen profitiert. Doch im Gegensatz zu politischen Kapitalisten hängen ihr Überleben und ihre Expansion nur selten von bestimmten Personen mit bestimmten Ämtern, bestimmten Parteien an der Macht oder bestimmten politischen Regimen ab. Das transnationale Kapital könnte und würde auch ohne die Nationalstaaten überleben, in denen es seinen Sitz hat. Politische Kapitalisten können im globalen Wettbewerb nicht überleben, wenn sie nicht zumindest über ein Gebiet verfügen, in dem sie ohne Einmischung von außen Insiderrenten erzielen können.
Korruption ist deshalb ein endemisches Problem des politischen Kapitalismus, selbst wenn dieser von einer effizienten, technokratischen und autonomen Bürokratie geleitet wird.
Das erfolgreichste Beispiel für einen politischen Kapitalismus ist China. Anders als in China aber sind in Russland die Institutionen der sowjetischen KP zerfallen; sie wurden durch ein Regime ersetzt, das sich auf persönliche Patronagenetzwerke stützt und die formale Fassade der liberalen Demokratie zu seinen Gunsten umgebogen hat. Dies steht Impulsen zur Modernisierung und Professionalisierung der Wirtschaft oft entgegen.
Sowohl Reinvestitionen als auch die Ausbeutung von Arbeitskräften stoßen im postsowjetischen politischen Kapitalismus auf strukturelle Hindernisse. Einerseits zögern viele, langfristige Investitionen zu tätigen, wenn ihr Geschäftsmodell und sogar der Besitz von Eigentum grundsätzlich von bestimmten Personen an der Macht abhängen. Es hat sich im allgemeinen als günstiger erwiesen, Gewinne einfach auf Offshore-Konten zu verschieben.
Andererseits sind die post-sowjetischen Arbeitskräfte urbanisiert, gut ausgebildet und nicht billig. Die relativ niedrigen Löhne in der Region sind nur wegen der umfangreichen materiellen Infrastruktur und der Sozialeinrichtungen möglich, die die Sowjetunion als Erbe hinterlassen hat. Dieses Erbe stellt eine massive Belastung für den Staat dar, es kann jedoch nicht so einfach aufgegeben werden, ohne die Unterstützung wichtiger Wählergruppen zu untergraben.
In dem Bestreben, die Rivalität zwischen den politischen Kapitalisten zu beenden, die die 1990er Jahre kennzeichnete, milderten bonapartistische Führer wie Putin und andere postsowjetische Autokraten den Krieg aller gegen alle ab, indem sie die Interessen einiger Elitefraktionen bedienten und andere unterdrückten – ohne an den Grundlagen des politischen Kapitalismus etwas zu ändern.

In der Ukraine
Als die räuberische Expansion an innere Grenzen stieß, versuchten die russischen Eliten, diese nach außen zu verlagern, um die Rentabilität ihrer Anlagen durch Vergrößerung des Pools an Fördermitteln aufrechtzuerhalten. Daher die Intensivierung von Integrationsprojekten unter russischer Führung wie der Eurasischen Wirtschaftsunion. Diese stieß auf zwei Hindernisse. Das eine war relativ unbedeutend: lokale politische Kapitalisten. In der Ukraine bspw. waren diese an billiger russischer Energie interessiert, aber auch an ihrem eigenen souveränen Recht, auf ihrem Territorium Insiderrenten zu erzielen. Sie konnten den antirussischen Nationalismus instrumentalisieren, um ihren Anspruch auf den ukrainischen Teil des zerfallenden Sowjetstaates zu legitimieren, aber es gelang ihnen nicht, ein eigenes nationales Entwicklungsprojekt zu entwickeln.
Die von Putin und anderen postsowjetischen Führern verordnete bonapartistische Stabilisierung hat das Wachstum der professionellen Mittelschicht gefördert. Ein Teil von ihr profitiert von den Vorteilen des Systems, z.B. wenn sie im Staatsapparat oder in strategischen Staatsunternehmen beschäftigt war. Ein großer Teil von ihr ist jedoch vom politischen Kapitalismus ausgeschlossen.
Ihre wichtigsten Einkommens- und Karrierechancen sowie die Möglichkeit, politischen Einfluss zu gewinnen, liegen in der Aussicht auf eine Intensivierung der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen zum Westen. Gleichzeitig sind sie die Avantgarde der westlichen Soft Power. Die Integration in EU- und US-geführte Institutionen stellt für sie ein Ersatz-Modernisierungsprojekt dar, um sowohl dem »richtigen« Kapitalismus als auch der »zivilisierten Welt« im allgemeinen beizutreten. Dies bedeutet zwangsläufig einen Bruch mit den postsowjetischen Eliten, ihren Institutionen und der tief verwurzelten, sozialistischen Mentalität der »rückständigen« plebejischen Massen, die nach der Katastrophe der 90er Jahre zumindest an einer gewissen Stabilität festhalten.
Für die meisten Ukrainer ist dies ein Krieg der Selbstverteidigung. In Anerkennung dessen sollten wir jedoch die Kluft zwischen ihren Interessen und denen, die behaupten, in ihrem Namen zu sprechen, nicht vergessen.
Der zutiefst elitäre Charakter des Projekts der Westorientierung ist der Grund, warum es in keinem postsowjetischen Land wirklich hegemonial wurde, selbst wenn es durch den historischen antirussischen Nationalismus gestärkt wurde. Selbst jetzt bedeutet die negative Koalition, die gegen die russische Invasion mobilisiert wurde, nicht, dass die Ukrainer um eine bestimmte positive Agenda vereint sind. Gleichzeitig erklärt dies die skeptische Neutralität des Globalen Südens, wenn er aufgefordert wird, sich entweder mit einem Anwärter auf die Weltmacht (Russland) oder mit einem Anwärter auf die Integration in den Westen (Ukraine) zu solidarisieren, der nicht versucht, den Imperialismus abzuschaffen, sondern sich mit einem erfolgreicheren Imperialismus zu assoziieren.

Was ›Antikorruption‹ bedeutet
Die Diskussion über die Rolle des Westens bei der Vorbereitung der russischen Invasion konzentriert sich in der Regel auf die Drohgebärden der NATO gegenüber Russland. Berücksichtigt man jedoch die besondere politische Struktur des postsowjetischen Kapitalismus, so wird klar, warum eine Westintegration Russlands ohne dessen grundlegende politische Umgestaltung niemals hätte funktionieren können.
Es gab keine Möglichkeit, die postsowjetischen politischen Kapitalisten in westlich geführte Institutionen zu integrieren, die ausdrücklich darauf abzielten, sie als Klasse auszuschalten, indem sie sie ihres wichtigsten Wettbewerbsvorteils beraubten: die von den postsowjetischen Staaten gewährten, selektiven Vorteile.
Die sog. Antikorruptionsagenda ist ein wesentlicher, wenn nicht sogar der wichtigste Teil der Pläne westlicher Institutionen für den postsowjetischen Raum; sie werden von der prowestlichen Mittelschicht in der Region weitgehend geteilt. Für die politischen Kapitalisten würde der Erfolg dieser Agenda ihr politisches und wirtschaftliches Ende bedeuten.
In der Öffentlichkeit versucht der Kreml, den Krieg als einen Kampf um das Überleben Russlands als souveräne Nation darzustellen. Das wichtigste Ziel ist jedoch das Überleben der russischen herrschenden Klasse und ihres Modells des politischen Kapitalismus. Die »multipolare« Umstrukturierung der Weltordnung würde das Problem für einige Zeit lösen.
Deshalb versucht der Kreml, sein klassenpolitisch motiviertes Projekt den Eliten des Globalen Südens zu verkaufen mit der Aussicht, dass sie ihren eigenen souveränen »Einflussbereich« behalten würden, der auf dem Anspruch beruht, »eine Zivilisation zu repräsentieren«.

Die Krise des Bonapartismus
Die widersprüchlichen Interessen der postsowjetischen politischen Kapitalisten, der professionellen Mittelschichten und des transnationalen Kapitals bilden die Struktur des politischen Konflikts, aus dem schließlich der aktuelle Krieg hervorging. Die Krise der politischen Organisation der politischen Kapitalisten verschärft jedoch ihre Bedrohungslage.
Keine der postsowjetischen sog. Maidan-Revolutionen stellte eine existenzielle Bedrohung für die postsowjetischen politischen Kapitalisten als Klasse an sich dar. Sie haben lediglich Fraktionen derselben Klasse an der Macht ausgetauscht und damit die Krise der politischen Repräsentation, auf die sie in erster Linie reagierten, nur verschärft. Aus diesem Grund ist diese Art von Protest so häufig aufgetreten.
Die Maidan-Revolutionen sind typische, zeitgenössische städtische Bürgerrevolutionen, wie der Politikwissenschaftler Mark Beissinger sie nennt. Anhand einer Fülle von statistischem Material zeigt er, dass die städtischen Bürgerrevolutionen im Gegensatz zu den sozialen Revolutionen der Vergangenheit die autoritäre Herrschaft nur vorübergehend schwächen und die bürgerlichen Zivilgesellschaften stärken. Sie führen weder zu einer stärkeren oder egalitäreren politischen Ordnung noch zu dauerhaften demokratischen Veränderungen.
Bezeichnenderweise haben die Maidan-Revolutionen in den postsowjetischen Ländern den Staat nur geschwächt und die lokalen politischen Kapitalisten anfälliger für den Druck des transnationalen Kapitals gemacht – sowohl direkt als auch indirekt über prowestliche Nichtregierungsorganisationen. In der Ukraine bspw. haben IWF, G7 und die Zivilgesellschaft nach dem Euromaidan hartnäckig eine Reihe von »Antikorruptionsinstitutionen« vorangetrieben.
In den letzten acht Jahren wurde kein einziger größerer Korruptionsfall bekannt. Allerdings wurde die Aufsicht ausländischer Staatsangehöriger und Antikorruptionsaktivisten über wichtige Staatsunternehmen und das Gerichtssystem institutionalisiert und damit die Möglichkeit der einheimischen politischen Kapitalisten, Insiderrenten zu erzielen, beschnitten. Russische politische Kapitalisten haben einen guten Grund, angesichts der Probleme der einst mächtigen ukrainischen Oligarchen nervös zu werden.
Der Zeitpunkt der Invasion sowie Putins Fehleinschätzung eines schnellen und einfachen Sieges lässt sich durch mehrere Faktoren erklären: z.B. Russlands vorübergehender Vorsprung bei Hyperschallwaffen, die Abhängigkeit Europas von russischer Energie, die Unterdrückung der sog. prorussischen Opposition in der Ukraine, die Stagnation des Minsker Abkommens von 2015 nach dem Krieg im Donbass oder das Versagen der russischen Geheimdienste in der Ukraine.
Die Verschärfung der postsowjetischen Hegemoniekrise – die Unfähigkeit der herrschenden Klasse, eine dauerhafte politische, moralische und intellektuelle Führung zu entwickeln – ist die Hauptursache für die eskalierende Gewalt.

Widersprüchliche Folgen
Die russische Führungsschicht ist vielfältig. Teile von ihr erleiden durch die westlichen Sanktionen schwere Verluste. Die teilweise Autonomie des russischen Regimes gegenüber der herrschenden Klasse erlaubt es ihm jedoch, unabhängig von den Verlusten einzelner Vertreter oder Gruppen langfristige kollektive Interessen zu verfolgen. Gleichzeitig verschärft die Krise ähnlicher Regime an der russischen Peripherie die existenzielle Bedrohung für die russische herrschende Klasse als Ganzes.
Die eher souveränen Fraktionen des russischen politischen Kapitals gewinnen die Oberhand über die eher kompromissbereiten, aber selbst letztere verstehen wahrscheinlich, dass sie mit dem Sturz des Regimes alle verlieren werden.
Mit dem Krieg versuchte der Kreml, diese Bedrohung für die absehbare Zukunft zu entschärfen, mit dem letztendlichen Ziel einer »multipolaren« Umstrukturierung der Weltordnung. Trotz der hohen Kosten verschafft der Krieg der russischen Abkopplung vom Westen Legitimität und macht es gleichzeitig äußerst schwierig, sie nach der Annexion von noch mehr ukrainischem Territorium rückgängig zu machen.
Gleichzeitig hebt die russische Herrscherclique die politische Organisation und ideologische Legitimation der herrschenden Klasse auf ein höheres Niveau. Es gibt bereits Anzeichen für einen Wandel hin zu einem stärker gefestigten, ideologischen und mobilisierungsorientierten autoritären politischen Regime in Russland, wobei der effektivere politische Kapitalismus Chinas als Vorbild dient.
Für Putin ist dies im wesentlichen eine weitere Etappe im Prozess der postsowjetischen Konsolidierung, den er Anfang der 2000er Jahre mit der Zähmung der russischen Oligarchen begonnen hat. Auf das lose Narrativ der Verhinderung von Katastrophen und der Wiederherstellung von »Stabilität« in der ersten Phase folgt nun in der zweiten Phase ein stärker artikulierter, konservativer Nationalismus, der sich im Ausland gegen die Ukrainer und den Westen, innerhalb Russlands gegen kosmopolitische »Verräter« richtet. Es ist die einzige ideologische Sprache, die im Kontext der postsowjetischen Ideologiekrise weithin verfügbar ist.
Einige Autoren argumentieren, eine stärkere hegemoniale Politik von oben könne den Aufstieg einer stärkeren gegenhegemonialen Politik von unten begünstigen. Wenn dies zutrifft, könnte die Hinwendung des Kremls zu einer stärker ideologisch geprägten und mobilisierenden Politik die Voraussetzung für eine organisiertere, bewusstere und in den Volksschichten verwurzelte politische Massenopposition schaffen, als sie je ein postsowjetisches Land gesehen hat, und letztlich für eine neue sozialrevolutionäre Welle sorgen.
Eine solche Entwicklung könnte wiederum das Gleichgewicht der sozialen und politischen Kräfte in diesem Teil der Welt grundlegend ändern und möglicherweise dem Teufelskreis ein Ende setzen, der ihn seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion vor etwa drei Jahrzehnten plagt.

Quelle: Volodymyr Ishchenko: The class conflict behind ­Russia’s war (https://alameda.institute/publishing/dossier-ukraine/).

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