Ein Meilenstein in der internationalen Rechtsgeschichte
von Norman Paech
Am 21.November 2024 hat der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) dem Antrag des Chefanklägers Karim Khan vom 20.Mai des Jahres zugestimmt, einen Haftbefehl gegen Premierminister Netanyahu, den ehemaligen Verteidigungsminister Yoaw Gallant sowie den Kommandeur der Kassam-Brigaden, des militärischen Arms der Hamas, Mohammed Diab Ibrahim Al-Masri, genannt Mohammed Deif, zu erlassen.
Deif ist wahrscheinlich Opfer eines Angriffs in Gaza geworden und lebt nicht mehr. Ursprünglich standen noch auf der Liste die inzwischen ermordeten Ismail Hanieh, Chef des Politbüros der Hamas, und Jahya Sinwar, damaliger Chef der Hamas, Nachfolger der ebenfalls von Israel ermordeten Scheich Ahmed Yassin und Abdel Aziz al-Rantisi. So verblieben praktisch nur Netanyahu und Gallant, denen Kahn Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorwarf.
Dem Haftbefehl war eine jahrelange Forderung der Palästinenser an die Anklagebehörde vorausgegangen, eine Untersuchung gegen die ständigen Überfälle der israelischen Armee einzuleiten. 2009 hatten sie sich an die Anklagebehörde des IStGH in Den Haag wegen des Überfalls der israelischen Armee zum Jahreswechsel 2008/2009 auf Gaza gewandt und eine Untersuchung gefordert.
Nach dem erneuten, sehr viel blutigeren Überfall 2014 – Operation Protective Edge –, nahm die Chefanklägerin Fatou Bensouda erste Vorermittlungen auf, die sie 2019 abschloss. Sie kam dabei zu dem Ergebnis, dass es bei der Operation in Gaza, bei der es über 2000 Tote und über 10.000 Verletzte gegeben hatte, möglicherweise schwere Kriegsverbrechen der israelischen Armee gegeben habe.
Im Juni 2021 wurde der Brite Karim Khan Nachfolger von Fatou Bensouda als Chef der Anklagebehörde. Doch bis zum Überfall der Hamas am 7.Oktober 2023 geschah offenbar nichts. Strittig war bis dahin immer noch die Zuständigkeit des Gerichtshofs für Straftaten in Palästina. Palästina war zwar 2015 dem Römischen Statut beigetreten und auch ohne Widerspruch in die Vertragsstaatenversammlung des IStGH aufgenommen worden, dennoch hatte die Bundesregierung in einer Stellungnahme an den Gerichtshof die mangelnde Staatsqualität gerügt und seine Zuständigkeit bestritten.
Es geht um die Auslegung des Art.12 Römisches Statut: »Ein Staat, der Vertragspartei dieses Statuts wird, erkennt damit die Gerichtsbarkeit des Gerichtshofs … an.« Da aber Palästina bislang – nicht ohne aktives Zutun der Bundesregierung – in der UNO nicht als Staat anerkannt worden ist, wird die Gerichtsbarkeit bestritten. Der Gerichtshof hat jedoch im Februar 2021 die Palästinenser auf Grund ihrer jahrelangen unproblematischen und unbestrittenen Zusammenarbeit als Vertragsstaat und damit seine Gerichtsbarkeit über Verbrechen beider Seiten in den besetzten Gebieten anerkannt.
Auch die Frage der Immunität von Staats- und Regierungsspitzen wurde immer wieder – natürlich nicht beim Strafbefehl gegen Wladimir Putin – gegen eine Rechtsverfolgung eingewandt. Sie hatte der Gerichtshof aber schon 2019 beim Haftbefehl gegen den sudanesischen Präsidenten Al-Bashir beantwortet und eine persönliche Immunität verneint (Art.27 Römisches Statut).
Versuche, den Befehl zu umgehen
Jüngst allerdings wandte sich die französische Regierung gegen eine Vollstreckung des Haftbefehls. Da Israel nicht Vertragspartei des Römischen Statuts sei, müsse die Immunität für Ministerpräsident Netanyahu und die betroffenen Minister gelten. Wenn der IStGH die Festnahme und Auslieferung fordere, müsse darüber die französische Justiz entscheiden. Dies folge aus Art.98 Römisches Statut, auf den sich auch schon die Mongolei berufen habe, als sie den Haftbefehl gegen Putin nicht vollstrecken wollte. Es gibt allerdings nicht wenige Stimmen in Frankreich, die auf dessen Verpflichtung als Vertragspartei des Römischen Statuts und auf die Entscheidung des Gerichtshofs vom 24.Oktober 2024 hinweisen, dass die Staaten verpflichtet sind, Personen, gegen die ein Haftbefehl ergangen ist, zu verhaften und zu überstellen.
Schließlich versucht die Bundesregierung den Haftbefehl mit dem Grundsatz der Komplementarität zu neutralisieren. Dieser in Art.17 Römisches Statut verankerte Grundsatz geht davon aus, dass die Staaten die völkerrechtlichen Verbrechen ihrer Angehörigen zu verfolgen haben. Der IStGH solle nur tätig werden, wenn die Staaten ihren Verpflichtungen nicht nachkommen. Da aber Israel eine funktionierende Gerichtsbarkeit habe, solle man den Haftbefehl solange aussetzen, um Israel die Möglichkeit eigener Rechtsverfolgung zu geben. Der IStGH wies darauf hin, dass Israel das natürlich könne, aber bisher nichts unternommen habe. Am 20.Mai 2024 stellte Khan schließlich den Antrag auf Erlass eines Strafbefehls beim Gerichtshof.
Drohungen gegen das Gericht
Es war zu erwarten, dass insbesondere die US-Administration aber auch die Bundesregierung und der wesentliche Teil der deutschen Medien sich der israelischen Regierung anschließen, die den Haftbefehl absurd und antisemitisch findet, eine Provokation und berüchtigte »Täter-Opfer-Umkehr«. Israel und die USA werden einer Aufforderung des IStGH nach Überstellung oder Auslieferung der Beschuldigten schon deswegen nicht folgen, weil sie nicht Vertragsstaaten des Römischen Statuts geworden sind.
Alle 124 Vertragsstaaten, zu denen auch die Bundesrepublik gehört, sind jedoch gemäß Art.86 Römisches Statut bei der Ermittlung von Verbrechen wie bei der Vollstreckung von Entscheidungen des Gerichtshofs zur Zusammenarbeit verpflichtet. Wenn dieser die Überstellung einer Person verlangt, wäre die Bundesregierung nach Art.89 Römisches Statut zur Verhaftung und Auslieferung verpflichtet, sollten Netanyahu oder Gallant in Deutschland auftauchen.
Schon nach dem Antrag von Ankläger Khan hatte Regierungssprecher Hebestreit versichert, die Bundesregierung werde sich an ihre rechtlichen Verpflichtungen halten. »Man halte sich an Recht und Gesetz«, war die Antwort von Außenministerin Annalena Baerbock auf die Frage nach der Position der Bundesregierung. Eingeklemmt zwischen Staatsräson und Völkerrecht konnte man sich angesichts der gescheiterten Bemühungen, den Strafbefehl zu verhindern, zu konkreteren Äußerungen nicht entschließen.
Einen besonderen Umgang mit dem IStGH und seinen Entscheidungen hat sich die US-Administration unter George W. Bush mit dem American Servicemembers Protection Act ausgedacht, der 2002 vom Kongress verabschiedet wurde. Er ermächtigt den Präsidenten, jede der in dem Act qualifizierten Person, die aufgrund einer Entscheidung des IStGH inhaftiert worden ist, »mit allen notwendigen und geeigneten Mitteln« zu befreien. Das Gesetz wird auch The Hague Invasion Act genannt und scheint schon in Aktion zu sein. Denn die Präsidentin des Strafgerichtshofs, Tomoko Akane, spricht von Angriffen auf das Gericht nach dem Haftbefehl, die »existenziell« seien, »Zwangsmittel, Drohungen und Sabotageakte«. »Wenn das Gericht zusammenbricht, wird das unvermeidlich den Zusammenbruch aller Arbeitsstellen und Fälle bedeuten.«
Sie macht insbesondere zwei ständige Mitglieder des UNO-Sicherheitsrats für die Angriffe auf das Gericht verantwortlich: »Mehrere gewählte Amtsträger werden massiv bedroht und von einem ständigen Mitglied des UN-Sicherheitsrats mit Haftbefehlen belegt, nur weil sie ihr richterliches Mandat gemäß dem gesetzlichen Rahmen und dem Völkerrecht gewissenhaft und sorgfältig ausgeführt haben«, erklärte Akane. »Das Gericht wird von Institutionen eines anderen ständigen Mitglieds des Sicherheitsrats mit drakonischen Wirtschaftssanktionen bedroht, als wäre es eine terroristische Organisation. Diese Maßnahmen würden die Arbeit des Gerichts in allen Situationen und Fällen schnell untergraben und seine Existenz gefährden.«
Derartige Drohungen sind bisher schon gegen den Chefankläger Karim Khan sowie gegen seine Vorgängerin Fatou Bensouda bekannt geworden, richten sich aber offensichtlich auch gegen die Spruchkammern des Gerichts. »Das Völkerrecht und die internationale Justiz sind bedroht. Ebenso wie die Zukunft der Menschheit«, fügt die Präsidentin des IStGH hinzu.
Aus welcher geografischen und politischen Richtung diese Angriffe auf die internationale Rechtsprechung kommen, ist offensichtlich. Die engen Freunde Israels zeigen, dass sie nicht nur nicht bereit sind, ihrer Verpflichtung aus der Völkermordkonvention nachzukommen, jeden Völkermord zu verhindern, sondern dass sie auch keine Skrupel haben, aktiv die Aufgaben des von ihnen geschaffenen Internationalen Strafgerichtshofs zu behindern. Wer über die Ohnmacht des Rechts redet, sollte über die politische Moral der Staaten nicht schweigen.
Angesichts des sich immer offener zeigenden Widerstandes gegen eine richterliche Kontrolle des Kriegsgeschehens ist allein der Erlass eines solchen Haftbefehls ein Meilenstein und vielleicht ein Wendepunkt in der Geschichte der internationalen Gerichtsbarkeit. Haftbefehle gegen Al-Bashir, Miloševi?, Gaddafi oder Putin waren Teil und Instrument der geopolitischen Herrschaftsauseinandersetzung. Ein Haftbefehl gegen Netanyahu, gegen eine zentrale Figur des westlich-atlantischen Bündnisses, ist ein tiefer Einschnitt in das alte Machtgefüge.
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