von Sachar Popowitsch
Sachar Popowitsch war vom ersten Tag an auf dem Maidan mit einer roten Fahne. Er hat auf dem Platz nicht geschlafen, ihn aber fast jeden Tag besucht.
Nie habe ich seit 2004 so viele Menschen im Zentrum von Kiew demonstrieren sehen wie an jenem 24.November, dem Tag der ersten Massendemonstration von Euro-Maidan. Aufläufe von Rechten gingen in den letzten zehn Jahren in die tausende, niemals in die zehntausende. An dieser ersten Demonstration nahmen mindestens 50000 Menschen teil, es war eine Massenmobilisierung von hauptsächlich Kiewer Bürgern gegen die korrupte, ineffektive und habgierige Regierung, eine Regierung von Oligarchen, die die Bevölkerung ausplündert.
Die Oligarchen haben das wirtschaftliche und politische System der Ukraine unter ihre Kontrolle gebracht, um ihren Raubzug zu legalisieren und auszubauen. Deshalb haben Parlament und Regierung Gesetze verabschiedet, die Steuerflucht zu einer absolut legalen und verbreiteten Praxis gemacht haben. Ein ukrainischer Oligarch zahlt keine Steuern auf Gewinne. Die größte Steuerlast liegt auf Arbeitern und Kleinunternehmern. Das gilt selbst für die Einkommensteuer, wo es einen Einheitstarif gibt. Tatsächlich ist der Tarif regressiv, nicht progressiv. Löhne von Arbeitern werden effektiv mit 40% belastet, während die Reichsten sich mit dem Einheitstarif von 17% aus der Affäre ziehen.
Die meisten Menschen verbinden mit Europa Gerechtigkeit, genauer gesagt: soziale Gerechtigkeit. Ich habe auf dem Maidan viele Arbeiter und Gewerkschafter getroffen. Bergarbeiter aus Luhansk, im äußersten Osten der Ukraine, sagten mir, sie wären auf dem Maidan, weil sie wollten, dass die Gerichte endlich Gerechtigkeit üben.
«Wir wollen, dass die Gerichte handeln», erklärte mir Wolodimir Sokolow, der Sprecher der Unabhängigen Gewerkschaft der Bergarbeiter von Rowenki in der Region Luhansk. Wenn unsere Gewerkschaftsaktivisten illegal entlassen werden, dauert eine Klage dagegen drei Jahre, bis sie wieder in ihren Job zurückkönnen. Das bedeutet, dass ein Unternehmer nach Belieben Leute feuern kann und sich um die Forderungen der Gewerkschaften nicht scheren muss. Das muss aufhören!
Das Justizsystem muss reformiert werden, das muss Teil eines Assoziierungsabkommens mit der EU sein, ein Freihandelsabkommen hingegen lehnen wir ab. Das ist die Forderung der Linken Opposition. Der politische Teil des Assoziierungsabkommens enthält widersprüchliche Punkte, kann im großen und ganzen aber helfen, die Ukraine demokratischer und freier zu machen und die Herrschaft des Gesetzes zu festigen.
Andererseits ist das in der Ukraine gültige Arbeitsrecht immer noch das sowjetische, in den meisten Fällen steht es auf der Seite der Arbeiter, nicht der Unternehmer, es wurde nicht aufgehoben wie in Russland. Wir wollen, dass das sowjetische Arbeitsrecht gestärkt wird!
Der 30.November
Es ist wahr, dass die Euro-Maidan-Bewegung von den Rechten initiiert wurde. Ihr organisiertester und einflussreichster Teil ist die rechtsextreme Partei Swoboda. Das ist eine Partei, die sich selbst in die Tradition des Hitlerismus stellt. Einige ihrer Führer sind damit beschäftigt, Beiträge von Hitler und Goebbels auf Ukrainisch zu verbreiten. Der Cheftheoretiker von Swoboda, Juri Michaltschischin, hat Goebbels’ «Kleines ABC des Nationalsozialisten» persönlich übersetzt und zusammen dem 25-Punkte-Programm der NSDAP und Ernst Röhms «Was genau ist die SA?» herausgebracht. Michaltschischin erklärt in der Einleitung die Aktualität dieses ganzen Nazi-Drecks für die Ukraine heute. Er hat auch einen Text mit dem Titel «Revolutionärer National-Sozialist» geschrieben.
In dem Moment, wo die Massenbewegung zurückging, nahm die Präsenz von Nazis pro Quadratmeter dramatisch zu. Am 27.11. haben mir Swoboda-Anhänger meine Fahnenstange zerbrochen, viele unserer Fahnen wurden zerrissen. Später auf dem Maidan wurden Dutzende von Linken und Gewerkschaftern von Rechtsextremen angegriffen.
Am 29.November sah es so aus, als wäre der Euro-Maidan vorbei. Nur noch ein paar hundert radikale Studenten waren auf dem Platz geblieben. Am frühen Morgen des 30.November griff die Polizei sie gewaltsam an und provozierte damit eine neue Protestwelle. Wieder befanden sich die Nazis in einer kleinen Minderheit mit wenig Einfluss in der Bewegung. Jedesmal, wenn es eine große Mobilisierung gab, konnten Linke ihre sozialistischen Vorstellungen verbreiten. Außerhalb des Maidan war das zu jeder Zeit möglich.
In den ersten Dezembertagen organisierten wir eine Reihe von Veranstaltungen außerhalb des Maidan, die meisten davon im Zentrum von Kiew. Eine davon war ein Protestmarsch von zweihundert Leuten gegen die Gewalt der Polizei. Wir konnten ihn nicht einmal richtig anmelden, weil das Gebäude des Gemeinderats zu dem Zeitpunkt von Swoboda besetzt war. Doch niemand griff uns an, weder die Polizei noch die Nazis. Auf der großen Massenkundgebung am 9.Dezember konnten wir auf dem Maidan das Wort am «freien Mikrofon» ergreifen.
Der 19.Januar
Die Regierung reagierte nicht und die Leute wurden wütend darüber. Kälte und Müdigkeit setzten uns zu. Die Regierung wartete darauf, dass wir aufgeben und uns zerstreuen würden, sie machte keinerlei Anstalten zu verhandeln, auch nicht mit den Führern der Opposition. Als die Zahl der Protestler signifikant zurückging, beschloss sie erneut, die Verbleibenden auseinanderzujagen.
Am 16.Januar setzte sie im Parlament Ausnahmegesetze durch, mit Wirkung vom 19.Januar. Jetzt ging der Aufstand erst richtig los. Die Menge zog vom Maidan zum Parlament und griff die Polizei an der Hruschewski-Straße an.
Die ersten Angriffe auf die Berkut, die Anti-Aufstands-Polizei, wurden hauptsächlich von den Neonazis des «Rechten Sektors» organisiert, die noch extremistischer sind als die Swoboda-Partei. Es stimmt aber auch, dass in den folgenden Tagen viele normale und sehr unterschiedliche Menschen sich am Kampf beteiligten. Zu tausenden schleppten sie Autoreifen und Öl an und nährten damit ein riesiges Feuer. Ich sah viele Russischsprachige und viele Junge aus den Vororten von Kiew. Das waren andere als die auf dem Maidan, die meist Ukrainisch sprachen und aus Städten der Westukraine kamen.
Als die ersten Toten fielen, wurde die Wut noch größer. Nun kamen tausende auf den Maidan, die dort die ganze Nacht verbrachten, häufig waren mehr als fünftausend Menschen auf dem Platz, während prorussische Kundgebungen einige hundert mobilisierten. Dieser Massenmobilisierung war es vermutlich zu verdanken, dass die Polizei vor einem Angriff zurückschreckte. Jeder glaubte, die Polizei würde den Platz stürmen, jeder war sicher, die Berkut würden angreifen.
Nach den neuen Gesetzen galten die Demonstranten als Kriminelle. Es gab Gruppen der extremen Rechten, aber auch solche der radikalen Linken, hauptsächlich Anarchisten.
Die meisten Demonstranten standen kritisch zur extremen Rechten und zur fremdenfeindlichen Opposition. Steine und Mollis flogen in Richtung Polizei, mehrere Polizisten wurden verletzt. Es war eine Massenrevolte von Ukrainern unterschiedlicher ethnischer Zugehörigkeit für Demokratie in der Ukraine.
An Hilfsmitteln mangelte es nicht. Ältere Menschen stellten sich in eine Schlange und reichten Steine und Autoreifen an. Alte Frauen halfen ihren Enkeln, Mollis abzufüllen. Die Polizei verzichtete darauf, gewaltsam gegen die Demonstranten vorzugehen, jeder Versuch, den Platz zu räumen, wäre mit einem Massaker geendet. So konnten die neuen anti-demokratischen Ausnahmegesetze nicht umgesetzt werden.
Diese Massenaktion gab aber auch den antidemokratischen Elementen, sprich den Neonazi-Gruppen auf dem Maidan Auftrieb. Aus der ersten Schlacht gegen die Polizei gingen sie gestärkt hervor und fühlten sich nun stark genug, sich zu Führern der Bewegung zu erklären.
Im Ukrainischen Haus
Auch die Linke konnte Gehör gewinnen. An vielen Orten fanden ständig öffentliche Diskussionen statt, nicht nur auf der zentralen Bühne des Maidan, es gab daneben auch eine Bühne «offene Universität» und «offenes Mikrofon». Bald nach der Schlacht vom 19.Januar auf der Hruschewski-Straße konnten linke Studenten einen Teil des Ukrainischen Hauses besetzen und organisierten von dort ihre Aktivitäten. Hier wurden Bücher und Flugblätter und unser Zehn-Punkte-Programm für einen sozialen Wandel in einer Auflage von mehreren Tausend verteilt.
Wir fanden Beifall und Unterstützung. Es gab viele Diskussionen, Lesungen, Filmvorführungen. Ich stellte mich als Kommunist vor und forderte eine soziale Säuberung: die sofortige Entfernung der Oligarchen und der Reichen aus allen Ämtern. Wir sprachen über Arbeiterkontrolle und den Entzug des Wahlrechts für alle Millionäre.
Unsere Zuhörer waren Leute aus der Westukraine, die sich selbst als Antikommunisten verstanden, ebenso wie Leute aus der Ostukraine, die sich als Antifaschisten sahen. Alle waren sie der Meinung, dass wir soziale Gerechtigkeit brauchen. Alle unterstützten die Forderung nach Entfernung der Oligarchen aus den Ämtern. Die Losung «soziale Gerechtigkeit» könnte die Ukraine einen, es ist die einzige, die das kann.
Das war am 17.Februar. Am 18. wurden wir Opfer eines neuen, massiven Angriffs. Wir wurden aus dem Ukrainischen Haus vertrieben und verloren unsere gesamte Ausrüstung. Wir konnten das Haus dann erneut besetzen, aber alles war futsch.
Nachdem Janukowitsch das Weite gesucht hatte, besetzten radikale Studenten auch das Hauptgebäude des Bildungsministeriums. Sie sorgten dafür, dass Swoboda-Leute nicht reinkamen. Swoboda stellt den Bildungsminister, hat mit dem Rektor der Nationalen Universität aber eher einen moderaten Vertreter nominiert. Die Studenten verlangten von ihm Rede und Antwort über sein Bildungsprogramm und er musste sich auf einen Zeitplan festlegen.
Die unabhängigen Gewerkschaften
Von Bedeutung war auch die Rolle der unabhängigen Gewerkschaften, vor allem der Unabhängigen Bergarbeitergewerkschaft aus Kriwi Rih. Das ist eine große Industriestadt im Südosten mit einer Million Einwohnern, wo hauptsächlich Russisch gesprochen wird. Die meisten arbeiten dort als Bergleute oder Metallarbeiter, gewinnen Eisenerz und produzieren Stahl.
Viele Städte in der Ostukraine erlebten in den 90er Jahren einen industriellen Niedergang, nicht so Kriwi Rih; Maschinenbau und metallverarbeitende Industrie sind stark zurückgegangen, aber die Herstellung von Rohmaterial nicht. Es ist die Hauptstadt der Eisenerzgewinnung in der Ukraine. Selbst der Staub auf den Straßen ist hier rot.
Die Gewerkschaft stellt Vertreter im gewählten, zwölfköpfigen Maidan-Rat; ihr Koordinator, Juri Samoilow, führt die Hundertschaft der Bergarbeiter an, eine Hauptsäule der Selbstverteidigungskräfte des Maidan. Diese Selbstverteidigung war wichtig, weil die Bergwerksverwaltung – die Minen gehören dem Oligarchen Rinat Achmetow – ihre eigenen bezahlten, paramilitärischen Tituschki-Einheiten aufgestellt hatte. Sie griffen die Demonstrierenden an und steckten Büros der Oppositionsführer in Brand.
Die Selbstverteidigungseinheiten auf dem Maidan wurden erst nach diesen Angriffen gebildet. Jetzt patroulliert die Hundertschaft der Bergleute zusammen mit der örtlichen Polizei durch Kriwi Rih.
Am Anfang sagten die Bergleute: Wir unterstützen die Bewegung, aber es ist nicht unsere Revolution. Jetzt sagen sie: Es ist unsere Revolution. Wenigstens in Kriwi Rih.
Die Legitimität
In der neuen Regierung hält die Neonazi-Partei Swoboda drei Ministerposten von zwanzig. Diese Leute wollen ein Neues Reich für ethnische Ukrainer. Die Parolen, die sie auf dem Maidan skandierten, sind geradewegs eine Übersetzung von «Deutschland über alles». Sie träumen von Atomwaffen und Interkontinentalraketen. Und glaubt mir, die Ukraine hätte genug Ressourcen, das herzustellen. In Dnepropetrowsk gibt es eine Raktenfabrik. Der neue Gouverneur der Stadt, der berüchtigte Oligarch Kolomoiski, hat sie gerade inspiziert. Er ist ein führender Vertreter des Ukrainischen Jüdischen Kongresses, was ihn nicht daran hindert, sehr rechts und sehr gegen die Arbeiter eingestellt zu sein.
Es ist nicht gesagt, dass die Nazis die Oberhand gewinnen werden. Wenn die Massenbewegung stark genug bleibt, werden sie sich nicht durchsetzen. Sollte die Ukraine Russland jedoch den Krieg erklären, würde die Gesellschaft eine faschistische Agenda wahrscheinlich akzeptieren. Noch können wir das verhindern.
Die sozialen Forderungen, die auf dem Maidan erhoben wurden, werden von der neuen Regierung völlig ignoriert. Statt die Oligarchen aus dem Amt zu jagen, wurden sie als Gouverneure in den Regionen Dnepropetrowsk und Donezk eingesetzt. Von einer stärkeren Besteuerung der Oligarchen ist keine Rede, statt dessen beugt sich die Regierung allen Sparforderungen des IWF.
Wir akzeptieren, dass diese Regierung legitim ist, denn sie ist hervorgegangen aus einer wirklichen Massenbewegung und hat erklärt, sie fühle sich den Forderungen des Maidan verpflichtet. Deswegen sollten alle Regierungen sie anerkennen.
Aber wir unterstützen sie politisch nicht, vor allem nicht solche Initiativen wie die Zerstörung von Denkmälern oder die Einschränkung der russischen Sprache. Wir widersetzen uns der Aufnahme von Faschisten in Polizei und Armee und überhaupt der chauvinistischen und antikommunistischen Hysterie, die durch die ständige Kriegspropaganda geschürt wird. Das ist eine sich selbst verstärkende Spirale.
Politisch kann das Land nur auf der Grundlage eines Programms der sozialen Gerechtigkeit zusammengehalten werden. Viele Menschen im Osten und Süden der Ukraine trauen der neuen Regierung nicht, wahrscheinlich trauen sie Putin und den prorussischen Extremisten genausowenig. Sie fühlen sich von der Partei der Regionen verraten. Die vertritt niemanden mehr. Auch die Menschen auf der Krim sind sehr wütend auf sie. Diesen Umstand beutet die separatistische Propaganda systematisch aus, etwa der Sprecher des Krim-Parlaments, der sich selbst zum neuen Führer der Partei der Regionen auf der Krim erklärt hat.
Unsere dringendsten Forderungen:
– schnellstmögliche Neuwahlen;
– Unterstützung von Organisationen der Zivilgesellschaft, insbesondere der unabhängigen Gewerkschaften;
– Null-Toleranz für die extreme Rechte;
– Rückzug der russischen Truppen aus der Krim – das ist eine Voraussetzung für ein legitimes Referendum. Sonst setzt sich die Situation des Halbkriegs fort, und davon profitiert nur die extreme Rechte!
Sachar Popowitsch ist Mitglied der Initiative Linke Opposition, einer sozialistischen Organisation in der Ukraine (http://gaslo.info) und Redakteur der Zeitschrift Spilne (www.commons. com.ua). Er ist Doktor der Ökonomie und arbeitet bei der ukrainischen Telekom.
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