Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 10/2014

Wahrheitswidrige Propaganda erschwert eine Lösung des Ukraine-Konflikts

von Leo Gabriel

Auch wenn sich jetzt das Rad der Geschichte plötzlich wieder zu drehen scheint und die ukrainische Regierung ein Gesetz verabschiedet hat, das der Region Donbass eine zumindest teilweise Autonomie zuzugestehen scheint, ist dem Frieden noch lange nicht zu trauen. Denn unter dem Lügengebäude, das jetzt langsam zum Vorschein kommt, liegen mindestens zweitausend Menschen begraben, die das Schicksal ereilt hat, nur weil sie zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort waren oder weil sie an die Propaganda des Westens oder des Ostens geglaubt haben.

Als ich Mitte Juli an einer von der Rosa-Luxemburg-Stiftung gesponserten Fact Finding Mission teilnahm, der u.a. auch zwei Kollegen von der deutschen Friedensbewegung, Thomas Zmrzly und Lucas Wirl, sowie der ungarische Mitgründer des gesamteuropäischen Netzwerks gegen Rechtsextremismus und Populismus, Mátyás Benyik, angehörten, glaubte ich zunächst, meinen Ohren nicht zu trauen. Denn in den zahlreichen Gesprächen, die wir mit Aktivisten des Maidan ebenso wie mit Angehörigen von Organisationen der radikalen Linken im Donbass führten, tauchten gebetsmühlenartig immer wieder die gleichen Stereotype auf, deren einziges Ziel es war, den gerade begonnenen Krieg zu rechtfertigen.

 

Missverständnis oder abgekartetes Kriegsspiel?

Was zunächst wie ein grobes Missverständnis zwischen unterschiedlichen politischen Kulturen aussah, war in Wirklichkeit eine Widerspiegelung jenes abgekarteten Spiels, mit dem verschiedene Protagonisten nationaler und internationaler Interessen das Ziel verfolgen, als Sieger hervorzugehen – koste es, was es wolle. Den starrköpfigen Politikern der Ukraine und Russlands ist anscheinend kein Mittel zu billig, den jeweils anderen als die Ausgeburt des Teufels darzustellen und sich so lange in einen Sanktionskrieg zu verstricken, bis die militärische Konfrontation unausweichlich scheint.

Will man diese Lügen zusammenfassen, ergibt sich in etwa folgendes Bild:

Lüge Nr.1: Die Ereignisse in und um den Maidan, die am 22.Februar 2014 zur Flucht des prorussischen Präsidenten Janukowitsch geführt haben, waren das Werk rechtspopulistischer Faschisten, die auf ukrainisch kurz «Nazis» genannt werden.

Inzwischen haben unabhängige Forschungen ergeben, dass selbst in Kiew in der Endphase maximal 15% der Aufständischen dem nationalen bis rechtsextremen Lager zuzurechnen waren. Der überwiegende Teil der Maidan-Leute war entweder anarchistisch bzw. basisdemokratisch geprägt oder wurde erst durch die Ereignisse selbst politisiert.

Anfänglich war die Anwesenheit von politischen Parteien der Rechten wie der Linken überhaupt nicht gestattet; erst nach und nach wurde diesen erlaubt, Zelte aufzuschlagen und politische Symbole wie die der EU zu tragen, was insbesondere die «Vaterlands-Partei» Julia Timoschenko und andere von der EU gesponserte Gruppierungen, zu denen auch die Rechten zählen, weidlich ausnützten.

Wie wenig die neue ukrainische Regierung des «Schokoladenkönigs» Petro Poroschenko und des Statthalters Timoschenkos, Arseni Jasinjuk, an der Maidan-Bewegung interessiert sind, zeigte sich Mitte August, als die Polizei des Boxers Witali Klitschko, der inzwischen zum Bürgermeister von Kiew avancierte, besoffene und teilweise auch bewaffnete Schlägertrupps auf den Maidan schickten, um diesen ohne Erbarmen, aber auch ohne Respekt für die Gedächtnisstätten der Opfer der Revolution zu räumen. Der Grund: Auf dem Platz hätten sich viele Obdachlose befunden.

Lüge Nr.2: Wladimir Putin würde nach seinem Abenteuer auf der Krim auch die ostukrainische Donbass-Region an Russland anschließen wollen, um von dort seinen Siegeszug nach Kiew und letztlich bis vor die Tore Wiens fortzusetzen. Putin ist wie Hitler, der die ganze Welt beherrschen will.

Diese in Kiew oft kolportierten Aussagen – unterstrichen durch das Verteilen von Bildern, die Putin neben Hitler abbilden – sind nicht nur Regierungspropaganda, sie werden von den meisten Ukrainern in mehr oder minder abgeschwächter Form auch geglaubt.

Dabei übersehen sie die Tatsache, dass der russische Präsident anlässlich des Referendums, das am 11.Mai im Donbass mit überwältigend großer Wahlbeteiligung stattgefunden hat, erklärte, er werde einen Anschluss des Donbass an Russland nicht akzeptieren. Deshalb hat der «Rat der unabhängigen Sowjetrepublik Donezk» beschlossen, bis September eine neue, noch nicht bekannte Verfassung auszuarbeiten und die Entscheidung, ob der Donbass unabhängig bleiben oder Teil einer ukrainischen Konföderation werden soll, zusammen mit zehn anderen Fragen einer weiteren Volksabstimmung zu unterwerfen.

Lüge Nr.3: Der Krieg ist die einzige Lösung, weil die jeweils andere Seite den Dialog verweigert.

Das ist, von welcher Seite auch immer betrachtet, falsch. Sowohl die Religionsgemeinschaften als auch die meisten Aktivisten des Maidan (unter ihnen auch die Angehörigen linker Gruppierungen) sind gegen den Krieg. Ihnen wurde jedoch eingetrichtert, der Krieg sei unvermeidlich, weil Putin beschlossen hätte, die gesamte Ukraine militärisch zurückzuerobern. Andererseits verurteilen die Bevölkerung und ihre Vertreter in Donezk und Lugansk die militärischen Angriffe und Bombardements ihrer Städte und fordern die ukrainische Regierung auf, mit ihnen den Dialog zu suchen.

In Wirklichkeit war und sind es die EU und die NATO, die sich bis dato starrköpfig weigern, mit den am Konflikt unmittelbar Beteiligten – und das sind nun einmal die Donbass-Leute – zu verhandeln. «Wir werden behandelt als hätten wir die Ebola-Krankheit», sagte die Vorsitzende des Verfassungsausschusses im Parlament von Donbass, Jana Manuilowa.

Lüge Nr.4: Es handelt sich bei dem Konflikt um einen «Kampf der Kulturen»: der russischen versus der ukrainischen Volkskultur, des Industrieproletariats im Osten versus der bäuerlichen Kultur im Westen und letztlich der Kommunisten stalinistischer Prägung gegen die westlich orientierten Demokraten.

Das stimmt schon überhaupt nicht. Die Ukraine ist eine multikulturelle Gesellschaft, ein Art Melting-Pot mit den unterschiedlichsten historischen Wurzeln und zwar sowohl im Westen als auch im Osten: Russen und Weißrussen, Ungarn, Bulgaren, Polen, Tartaren gaben sich hier die Hand, ohne dass es zwischen ihnen größere Konflikte gegeben hätte; nur dass im Osten die Präsenz der verschiedenen Nationalitäten aus den ehemaligen Sowjetrepubliken stärker spürbar ist als im Westen. Die Ukrainer auf beiden Seiten sind in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle zweisprachig (ukrainisch/russisch) und auf beiden Seiten gibt es vor allem in der jüngeren Generation Menschen, die mehr oder minder gut englisch sprechen.

Am ehesten stimmt es noch, dass es im Donbass eine relativ starke KP gibt, die nach wie vor von der Rückkehr zur Sowjetunion träumt, während diese im Westen verboten ist (von wegen Demokratie!). Genauso wie in Russland selbst hat sich die KP auch hier mit Oligarchen wie Rinat Achmedow arrangiert.

Mehr noch als am Futtertrog Moskaus hängt der Donbass am Futtertrog dieser Oligarchen, die in diesem Teil der Ukraine in Independentisten und Föderalisten gespalten sind – wie übrigens im Westen der Ukraine auch, nur dass dort die Independentisten Nationalisten heißen.

 

Perspektiven eines Dialogs der Linken

Angesichts all der Lügenpropaganda ist es derzeit unglaublich schwierig, einen Dialog selbst innerhalb der Linken zustande zu bringen. Die Gruppierungen und Organisationen, die sich in der Vergangenheit an der internationalen Sozialforumsbewegung beteiligt haben, stehen heute in unterschiedlichen Lagern und haben angesichts der angespannten militärischen Lage große Angst voreinander.

Tatsächlich sind derzeit viele, dem Maidan nahestehende, freiwillige Kämpfer von den sog. Selbstverteidigungsbrigaden im Osten derzeit umzingelt und fühlen sich in ihrem Leben bedroht. Auf der anderen Seite wurde erst kürzlich wieder ein Aktivist der linken Organisation Borotba (Wladislaw Wojciechowski), die auf der Seite der Donbass-Leute steht, vom ukrainischen Geheimdienst in Odessa verhaftet und gefoltert.

Mit dem Ziel, die Möglichkeiten eines politischen Dialogs unter den Linken auszuloten, bin ich zu einer Konferenz mit dem Titel «Krieg in der Ukraine und die Politik der Linken» gefahren, die am 6. und 7.September in Kiew im ehemals vom Maidan besetzten Ukrainischen Haus stattfand. Auf diesem von der Rosa-Luxemburg-Stiftung geförderten Treffen, das unter der Leitung der namhaften Politologen Wolodimir Ischtschenko und Sachar Popowitsch stattfand, wurden die enormen Menschenrechtsverletzungen und die Ausweglosigkeit der sozialen Bewegungen beklagt und die Gründung einer neuen Linkspartei, unterstützt von einigen Gewerkschaften, in Aussicht gestellt.

Da die ehemaligen Angehörigen des Maidan bis heute über keine eigene Organisationsstruktur verfügen, ist dieser Beschluss bemerkenswert. Es wird jedoch noch einige Zeit dauern, bis die Organisatoren auch bereit sind, sich mit organisierten Strukturen der Zivilgesellschaft aus dem Donbass auseinanderzusetzen – was angesichts der angespannten Sicherheitslage derzeit nur im Ausland möglich wäre.

Um das politisch zu ermöglichen, müsste zunächst einmal auf internationaler Ebene ein Klima geschaffen werden, das den vom Krieg geschädigten Kräften der ukrainischen Zivilgesellschaft im Osten wie im Westen das Vertrauen gibt, aufeinander zuzugehen. Ein solches Klima zu schaffen, wäre die Aufgabe einer internationalen Friedensbewegung, die bisher jedoch nur mit einigen Erklärungen und Unterschriftenlisten in Erscheinung getreten ist.

Es bleibt zu hoffen, dass der von Schweden und Norwegen ausgehende Versuch, durch Mobilisierungen in möglichst vielen europäischen Städten am 27. und 28.September die Europäische Union zu einer radikalen Änderung ihrer Ukrainepolitik zu bewegen, ein erster Schritt sein wird, einen gangbaren Ausweg aus dem ukrainischen Irrgarten zu finden.

 

Leo Gabriel ist Wiener Journalist und Sozialanthropologe, Mitglied des Internationalen Rats des Weltsozialforums und Aktivist der Friedensbewegung.

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