Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 07/2016
Muss man sich im DGB organisieren?
Willi Hajek antwortet auf Jakob Schäfer

Ohne die DGB-Gewerkschaften geht in der nahen Zukunft nichts, meint Jakob Schäfer in der Mai-Ausgabe der SoZ.

Ich denke aber eher: Individuelle und kollektive Initiativen sind jeden Tag mehr gefordert, entschlossenes und mutiges gewerkschaftliches Handeln wird gebraucht, und vor allem keine Angst vor legitimen Aktionen, die auch nicht immer legal und ordentlich sein müssen. Schauen wir nach France. Blockaden werden in keiner Verfassung und auch nicht im Bürgerlichen Gesetzbuch erlaubt, aber was tun, wenn Lohnarbeitende, wenige oder viele, ihr Grundrecht auf Streik wahrnehmen und durch ihre Streikketten und Streikposten im Land Benzinknappheit provozieren?

Ich denke eher, wir müssen unseren Blick dafür schärfen, was sich in der gewerkschaftlichen und gesellschaftlichen Landschaft real tut. Über die etablierten Medien erfahren wir zumeist sehr wenig, vor allem ganz wenig von den oftmals kleinen lokalen und regionalen Konflikten, in denen sich emanzipativ-politisches Handeln ausdrückt. Vielleicht wird das kurz wahrgenommen in der lokalen Presse, aber das geht nicht weiter und wird nicht weiter verfolgt.

Was es alles schon gibt
Die letzten drei SoZ-Ausgaben geben doch einen guten Einblick, wie vielfältig die Suche nach emanzipativen gewerkschaftlichen Praktiken ist: etwa die polnische Krankenschwester, die als Einzelkämpferin, unterstützt von einer anarchosyndikalistischen Gewerkschaft, die auch sehr engagiert im Amazon-Netzwerk agiert, den Kampf führt mit der Absicht: «Was ich für mich erkämpfen kann, nutzt allen.»

Wie sehr ist sie Teil dieser Emmely-Kollektive, die überall ihr Anliegen zum Anliegen der gesamten Gesellschaft machen! So wie die prekären Kulturarbeiter oder auch die Eisenbahner in Frankreich als Leitgedanken bei ihren Aktionen immer das Transparent tragen: «Was wir für uns verteidigen, verteidigen wir für alle.»

Ja, und die vielfältige Gesamtbelegschaft an der Frankfurter Uni, die den Unterbau für eine  neue Gewerkschaft schaffen will mit der Überlegung: «Alle, die an der Uni beschäftigt sind, in einer Organisation zusammenzufassen, um ein ganz neues soziales Experiment zu starten.» Sie greifen Praktiken auf, die gerade die Gewerkschaften in SUD-Solidaires zu ihrer Grundlage gemacht haben: Bahngewerkschaften organisieren nicht nur Lokführer oder fahrendes Personal, sondern alle, die zum Bahnbetrieb gehören – von den zumeist privatisierten Reinigungskolonnen bis zu den Schalterangestellten und Kontrolleuren.

Seit den ersten Bahnstreiks 2007 hat sich doch etwas verändert in diesem Land. Die GDL (Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer) wäre niemals in der Lage gewesen, diese Streiks anzupacken und durchzuführen, wenn nicht eine ganze Reihe Kolleginnen und Kollegen aus den DGB-Bahngewerkschaften zornig und wütend ausgetreten wären, gerade wegen deren arroganter gewerkschaftlicher Praktiken während der Tarifverhandlungen! Die Hansen-Truppe bei Transnet tätigte Abschlüsse, die dem Vorsitzenden einen Leitungsposten bei der Bahn einbrachten und den Kollegen immer mehr Belastungen im Schichtdienst abverlangten. Wie schnell erreichte eine engagierte bunte Truppe von empörten Kolleginnen und Kollegen bei der S-Bahn in Berlin (3000 Beschäftigte) für einige Jahre die Mehrheit im Betriebsrat mit einem Programm, das nichts weiter erreichen wollte als: Transparenz im Betriebsrat und in der Gewerkschaft, um vor betriebsgewerkschaftichen Entscheidungen, die alle angehen, gefragt zu werden. Genau solche Situationen haben wir in vielen Bereichen der Lohnarbeit, und sie bringen Initiativen und Praktiken hervor, die sich oftmals innerhalb des DGB nicht entfalten oder gar nicht erst entstehen können. Auch die Initiative «Arbeitsunrecht» ist solch eine Aktivität.

Ein gutes Beispiel ist auch die exemplarische Streikaktion der Nachtschicht im Mercedes-Werk in Bremen gegen die Auslagerungspolitik der Werksleitung. Ergebnis: 700 Abmahnungen von streikenden Kollegen, die später zumeist zurückgenommen werden mussten, und vor allem eine Rüge von seiten der IG-Metall-Ortsverwaltung. Was wäre, wenn die Kollegen eine Alternative zur IG Metall hätten, die diesen Streik und den Kampf gegen Auslagerungen mit dem Ziel «Ein Betrieb – eine Belegschaft» zu ihrer Sache machen würde? Genauso wie den entschlossenen Kampf für die Abschaffung der Leiharbeit? Und die Initiative zum Aufhängen des Transparents in Halle 7 am 14.Juni in Solidarität mit den Aktionen in Frankreich ist auch durch Selbstermächtigung entstanden (siehe Bild).

Gerade die Existenz von Oppositionslisten in Betrieben – bei Opel, Daimler, Sanofi und anderen – kann doch dazu führen, dass auch die Handlungsräume für die Opposition im DGB, in der IG Metall und anderen Gewerkschaften größer werden, zumindest ist das meine Erfahrung in den letzten 30 Jahren oppositioneller basisgewerkschaftlicher Praxis.

Vor allem muss die Existenz mehrerer Gewerkschaften nicht bedeuten, dass Belegschaften gespalten werden, es kann eher bedeuten, dass sich sehr unterschiedliche Milieus und Interessenlagen innerhalb der Lohnarbeit ausdrücken können und sichtbar werden. Die gewerkschaftliche Vielfalt im Bereich des Frankfurter Flughafens hat der Kampfbereitschaft der Beschäftigten nicht geschadet, denke ich. Die Bahnstreiks der GDL im September 2015 haben eher rebellische Geister in vielen gesellschaftlichen Bereichen munter werden lassen, oder? Was oftmals fehlt, sind Orte, wo sich diese Vielfalt treffen und kennenlernen kann – siehe Nuit debout.

Gegenwind
Aber der DGB und die Mehrheit seiner Mitgliedsgewerkschaften spüren diesen Wind und die Bewegung in der gewerkschaftlichen Landschaft und bekommen Angst, wie ehedem 1973 vor den wilden Streiks, als sie mit Gewerkschaftsausschlüssen und anderen Repressionsmaßnahmen reagierten. Die Initiative, die der DGB zusammen mit dem BDI 2010 losgetreten hat, um das Streikrecht zu begrenzen, war ein sichtbarer, praktischer politischer Schritt in diese Richtung. Die Pressekonferenz des DGB-Vorsitzenden Sommer 2010, auf der er dieses Vorgehen begründete, sollten alle nachhören oder nachlesen (www.youtube.com). Dort stellte Sommer seine Kerngedanken zur Krise der Medienöffentlichkeit vor: «In der Krise gemeinsam mit den Unternehmen gegen die Unruhestifter.»

Die IG Metall forderte damals in einem Rundschreiben an ihre gewerkschaftlichen Bildungsarbeiter, in ihren Bildungsseminaren das Thema «neues Streikgesetz» nicht zu behandeln. Ver.di war anfangs ebenfalls für dieses Vorgehen, aber offensichtlich gibt es in Ver.di eine lebendige aktive Oppositionskultur, auch gegen Entscheidungen des großen Vorsitzenden.

Dieses Vorgehen für eine Einschränkung des Streikrechts führte aber dazu, dass sich Leute zusammenfanden, die ein Komitee gründeten für ein uneingeschränktes Streikrecht für jede und jeden und für Koalitionsfreiheit – egal ob für die Berufsgewerkschaft GDL oder für die Syndikalisten aus der FAU oder den Wobblies – all das nach einer solidarischen, respektvollen und kritischen Diskussions- und Aktionsphase, zu der auch Jakob Schäfer gehörte, und das Netzwerk Gewerkschaftslinke und ebenso die FAU, die Wobblies und andere engagierte Aktivisten.

In diesem Komitee sammelten sich Akteure aus den unterschiedlichsten sozialen Bereichen, Gewerkschaften und Initiativen. Hinzu kamen engagierte Arbeitsrechtsanwälte, die in dieser Debatte eine wichtige, juristisch aufklärende Rolle übernahmen. Die Demonstration am 18.April 2015 in Frankfurt war sicherlich die erste Demo hier in der BRD seit langem, an der Anarchosyndikalisten, Ver.di-Aktive und Kollegen der GDL gemeinsam für ein uneingeschränktes Streikrecht für jede und jeden durch Franfurt demonstrierten – und dazu noch die Basisgewerkschafter von SUD-Solidaires aus Frankreich.

Aufgabe gerade von SoZ, express und anderen Zeitungen ist es doch, diese emanzipativen Vorgänge in der gewerkschaftlichen Landschaft zu entdecken, aufzuspüren und sichtbar zu machen, ohne jede organisatorische Voreingenommenheit. Mit diesem Öffentlichwerden können wir dann auch voneinander lernen, uns kritisch auseinandersetzen und Vorstellungen von emanzipativen, basisgewerkschaftlichen Praktiken entwickeln und erfinden.

Denn emanzipatives, gewerkschaftliches und gesellschaftliches Handeln und Denken muss alltäglich neu erfunden werden.

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