Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

Bert Brecht hielt nicht viel vom Recht auf geistiges Eigentum. Wir auch nicht. Wir stellen die SoZ kostenlos ins Netz, damit möglichst viele Menschen das darin enthaltene Wissen nutzen und weiterverbreiten. Das heißt jedoch nicht, dass dies nicht Arbeit sei, die honoriert werden muss, weil Menschen davon leben.

Hier können Sie jetzt Spenden
PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 11/2024

Die Regierung Yunus pflegt weiter den Kontakt zu Geschäftsfreunden des alten Regimes
von Dominik Müller

Eigentlich hatten die Textilarbeiterinnen in Bangladesh gehofft, dass sich ihre Situation mit dem Sturz des Regimes von Sheik Hasina Wajeed Anfang August verbessert.

Die Arbeitsbedingungen der Textilarbeiterinnen gehören zu den schlechtesten weltweit: In der Presse wird Bangladesh auch als »Schmuddelkind der globalen Textilindustrie« bezeichnet. Fast alle großen Modelabels lassen hier produzieren.

Die Hoffnung wurde enttäuscht, Mitte August flammten die ersten Proteste rund um die Hauptstadt Dhaka auf, wo sich viele der Textilfabriken befinden. »Die Beschäftigten haben so viele Gründe zu protestieren«, erklärt Anu Muhammad, der zusammen mit Gewerkschafter:innen, Schriftsteller:innen, Künstler:innen, Professor:innen und Studierenden in Bangladesh das Committee for Democratic Rights ins Leben gerufen hat. »Viele haben monatelang keinen oder nur einen Teil ihres Lohns erhalten, verbale und körperliche Attacken kommen häufig vor in den Fabriken und jeder Versuch, sich gewerkschaftlich zu organisieren, wird mit Drohungen beantwortet«, beschreibt der seit einem Jahr emeritierte Ökonomieprofessor und Aktivist. Die Proteste seien vor allem spontaner Natur, nur wenige Arbeiter seien gewerkschaftlich oder in politischen Parteien organisiert. »Aber mit ihren Aktionen machen sie den vielen anderen Kolleg:innen Mut, sich ebenfalls für ihre Rechte einzusetzen.«
Knapp fünf Millionen Menschen arbeiten in etwa 4000 Textilfabriken, sie produzieren Waren im Wert von 46 Milliarden US-Dollar – mehr als 80 Prozent des gesamten Exportvolumens. Der Textilsektor ist das wirtschaftliche Rückgrat Bangladeshs. Allein in Gazipur, Sarvar und Ashulia, Produktionszentren am Rande der Hauptstadt Dhaka, sind wegen Streiks und Protesten Mitte September knapp 200 Fabriken geschlossen.

Repression gegen Gewerkschaften
Manche der Produzenten in Bangladesh, von denen viele gute Verbindungen zum alten Regime pflegen, hatten über längere Zeit überhaupt keine Löhne mehr gezahlt und wurden Zielscheibe besonders heftiger Proteste.
In einigen Fällen wurden auch Maschinen und Fahrzeuge zerstört und beschädigt. Im Laufe des September schlossen sich außerdem Beschäftigte aus der pharmazeutischen Industrie den Protesten an. Bangladesh ist ein wichtiger Hersteller von Generika, die in vielen Ländern des globalen Südens zum Einsatz kommen, darunter Antibiotika, Schmerzmittel usw. Die Übergangsregierung mobilisierte daraufhin die Industriepolizei, eine 5000 Personen starke Einheit, die 2010 von Sheik Hasina ins Leben gerufen wurde und als Hilfstruppe der Unternehmer gilt. In der Vergangenheit ging sie immer wieder mit brachialer Gewalt gegen streikende Beschäftigte vor.
»Seit Jahren sind die Beschäftigten in Bangladesh mit schweren staatlichen Repressionen konfrontiert, darunter die gewaltsame Niederschlagung friedlicher Proteste durch die berüchtigte Industriepolizei und Einschüchterungsversuche, um die Gründung von Gewerkschaften zu verhindern«, schreibt der internationale Gewerkschaftsdachverband ITUC in seinem Global Rights Index 2024.
Die Proteste flauten etwas ab, als Gespräche angekündigt wurden: Am 23.September kam es schließlich zu einem Treffen zwischen dem Arbeitsministerium, Gewerkschaftsvertretern und Arbeitgebern. 18 Forderungen hatten die Gewerkschaften vorgebracht, 16 wurden akzeptiert: Darunter eine Erhöhung des Essensgelds und eine Verlängerung des Mutterschaftsurlaubs von 112 auf 120 Tage. Aber weder wollten sich die Unternehmer auf neue Tarifverhandlungen noch auf eine sofortige Erhöhung der Löhne um 10 Prozent einlassen.
»Diese Dreiparteiengespräche waren eine gute Initiative und einige Beschlüsse waren auch ermutigend«, so Anu Muhammad, »aber selbst die Punkte, in denen man sich einig war, wurden in vielen Fabriken dann nicht umgesetzt – deshalb erleben wir erneute Unruhen.«
Der aktuelle Mindestlohn wurde Ende 2023 blutig erstritten, vier Arbeiter kamen bei Polizeieinsätzen ums Leben, es gab mehrere Schwerverletzte. Er beträgt umgerechnet 106 Euro. Gewerkschaften hatten das doppelte gefordert. Aus gutem Grund, denn der Lohn reicht nicht für den Lebensunterhalt: Miete und Trinkwasser sind in Dhaka besonders teuer, die Inflationsrate auch für Lebensmittel liegt bei über 10 Prozent in ganz Bangladesh.
Nach neueren Studien sind mehr als zwei Drittel der Textilarbeiter:innen hoch verschuldet. Weil der monatliche Mindestlohn nicht ausreicht, um die Lebenshaltungskosten zu begleichen, müssen sich viele am Ende des Monats Geld leihen: bei Verwandten, Freunden, Kredithaien oder Mikrokredite, etwa bei der Grameen Bank, die der Chef der Übergangsregierung, Muhammad Yunus, mitgegründet hat. Zum Teil betragen die Schulden das Siebenfache ihres Mindestlohns.

Neoliberalismus pur
Landwirtschaft und Textilsektor sind die Branchen mit den meisten Beschäftigten in Bangladesh. Dennoch sind weder Vertreter der Kleinbauern, Landlosen oder Textilarbeiter in der Übergangsregierung vertreten.
Seine politische Prägung erhielt Muhammad Yunus in den USA. »In den Vereinigten Staaten sah ich, dass die Marktwirtschaft das Individuum befreit und ihm gestattet, seine persönliche Wahl zu treffen«, schreibt Yunus in seiner Autobiografie über seine Studienzeit in den USA Anfang der 1970er Jahre. Mikrokredite statt öffentliche Daseinsvorsorge und Wohlfahrtsstaat – das passt auch zu den ökonomischen Rahmenbedingungen, die in Bangladesh vorherrschen. Denn der Spielraum der Übergangsregierung ist äußerst begrenzt. Bereits vor der Coronapandemie wurden 60 Prozent der Staatseinnahmen für den Schuldendienst benötigt. Für Gesundheit und Bildung etwa bleibt da nicht mehr viel übrig.
Anu Muhammad macht diese wirtschaftlichen Faktoren mit für die politische Situation in Bangladesh verantwortlich. »Das neoliberale Entwicklungsmodell der Weltbankgruppe, nämlich die Privatisierung öffentlicher Ressourcen und der freie Zufluss schädlicher ausländischer Investitionen«, habe eine »kleine Gruppe von Superreichen geschaffen«.
Muhammad, einer der unabhängigen Intellektuellen Bangladeshs, bezweifelt, dass die Übergangsregierung die Macht dieser Leute nennenswert einschränken kann. Sheik Hasina Wajeed und Muhamad Yunus hätten zwar »einen persönlichen Konflikt« gehabt, der sei aber nicht politischer Natur gewesen. Auch Yunus pflege enge Kontakte zur globalen Geschäftswelt.

Handelsverträge
Anu Muhammad gehen die Reformvorschläge der Übergangsregierung nicht weit genug. Zusammen mit dem Committee for Democratic Rights hat er einen Forderungskatalog entwickelt. Unter anderem wird die Offenlegung aller internationalen Handelsverträge gefordert. Natürlich müssten auch die Preise für lebenswichtige Güter gesenkt und »endlich Gewerkschaftsrechte gewährleistet« werden.
Bei einem ersten Treffen mit mehr als 50 ausländischen Diplomaten und Vertretern von UN-Institutionen Mitte August kündigte Yunus demokratische Wahlen und eine Untersuchung der Verbrechen des Hasina-Regimes an. Man wolle Korruption und Missmanagement bekämpfen. Außerdem rief er die Handels- und Investitionspartner auf, ihr Vertrauen in Bangladesh aufrechtzuerhalten: »Wir werden keinen Versuch dulden, die globale Bekleidungslieferkette, in der wir ein wichtiger Akteur sind, zu stören.«
Am 30.September folgten den Worten entsprechende Taten: Bei den neu aufgeflammten Protesten in Ashulia kam nach einem Polizeieinsatz ein Textilarbeiter ums Leben, fünf weitere wurden mit Schussverletzungen ins Krankenhaus eingeliefert.

Teile diesen Beitrag:
Kommentar zu diesem Artikel hinterlassen

Folgende HTML-Tags sind erlaubt:
<a href="" title=""> <abbr title=""> <acronym title=""> <b> <blockquote cite=""> <cite> <code> <del datetime=""> <em> <i> <q cite=""> <s> <strike> <strong>



Spenden

Die SoZ steht online kostenlos zur Verfügung. Dahinter stehen dennoch Arbeit und Kosten. Wir bitten daher vor allem unsere regelmäßigen Leserinnen und Leser um eine Spende auf das Konto: Verein für solidarische Perspektiven, Postbank Köln, IBAN: DE07 3701 0050 0006 0395 04, BIC: PBNKDEFF


Schnupperausgabe

Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo.


Kommentare als RSS Feed abonnieren