Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 12/2023

Eine südkoreanische Pop-Band gaukelt heile Welt vor – ein Milliardengeschäft
von Volker Brauch

BTS nennt sich eine siebenköpfige süd­koreanische Boy Group, die sich von Vorgängergruppen deutlich unterscheidet. Es geht nicht nur um Musik, Gesang, Tanz und gute Laune, sondern um ein inszeniertes Kunstprodukt mit hoher emotionaler Verbindung zu ihrer weitweiten Fangemeinde. Permanente Inszenierungen bei Auftritten und im Alltag der Gruppe, mit der die Fangemeinde ARMY auf Trab gehalten wird, vermitteln das Gefühl, mit den Idolen Tür an Tür zu leben, und erzeugen ein gewolltes symbiotisches Abhängigkeitsverhältnis.

Das erschaffene Modell einer fiktiven Großfamilie stellt eine neue Qualität in der medialen Welt dar. Es vermittelt nicht nur die Illusion, als Individuum ernst genommen zu werden und aufgehoben zu sein, sondern bietet einen konstruierten, emotionalen Raum, der vor seelischen Verletzungen des Alltags schützen soll. Es ist ein neues Geschäftsmodell mit enormer, weltweiter Breitenwirkung.
Der Name der Band steht für den koreanischen Begriff Bangtan sonyeondan, übersetzt: »kugelsichere Pfadfinder«, was auch immer das heißen mag. Die aktuell erfolgreichste Boyband, die mit ihrer Gründung eine neue Zeitrechnung eingeleitet hat, steht für perfekte Choreografie, gefühlsbetonte Melodien, makellos-flauschige Performance, viel Gefühl und sterile Erotik, ein Gesamtkunstwerk mit hoher Perfektion.
Die oft schmalzigen Präsentationen verehren weltweit 40 bis 90 Millionen Fans, vorwiegend jüngere Frauen, zu einem großen Teil aber auch Frauen deutlich über dem Teenageralter. Ein enormer Hype, der die Herzen vieler Menschen auf der ganzen Welt erobert, obwohl ein Großteil der Texte nicht japanisch oder englisch, sondern koreanisch sind.
Zur DNA der Gruppe gehört die Ablehnung und das Tabu von Alkohol, Drogen, Exzessen oder von Beziehungen zu Partnern. Eine bewusst liebevolle und respektvolle Interaktion und eine vermeintliche Nähe zu Fans stellen das Erfolgsrezept der Gruppe dar. In Liedtexten, öffentlichen Äußerungen, über Posts in den sozialen Netzwerken geht es immer wieder um Themen wie Depression, Verlust- und Zukunftsängste, Mitgefühl für das Gegenüber, Selbstliebe und Verletzungen, ein Gegenentwurf zu machomäßigen, aggressiven Bad Boys der Rockwelt und toxischer Männlichkeit.
Immer wieder betont BTS, dass sie ihren Fans etwas zurückgeben möchten und ein tiefes Verständnis für sie haben. Die Fanbewegung fühlt sich wertgeschätzt durch die zur Schau getragene Emotionalität, im Kern eine Projektionsfläche für unerfüllte Wünsche und Sehnsüchte, ein fiktiver Bereich um seelische Verletzungen zu heilen.

Mit Druck und Drill
Die südkoreanische Big-Hit-Entertainment-Industrie, die im Hintergrund diese künstliche Welt erschafft, kreiert am laufenden Band Groups solchen Typs, BTS ist aktuell aber ihr erfolgreichstes Modell. Jugendliche, kaum der Kindheit entwachsen, werden für einige Jahre in Camps, abgeschottet von aller Öffentlichkeit, mit Druck und Drill gecastet, um sie später in eine scheinbar originäre Boy Group mit kunterbunter Individualität auf den Medienmarkt zu werfen. Zu diesem Zeitpunkt haben die einzelnen Mitglieder als kommerziell aussichtsreiche Band eine profunde Ausbildung in Tanz, Gesang, Performance und Englischkenntnissen durchlaufen.
Koreanische Unterhaltungskonzerne im Hintergrund wie SM Entertainment, YG Entertainment und JYP Entertainment spielen eine wichtige Rolle im K-Pop-Geschäft. Dieses durchstrukturierte Managementsystem begreift die Investition als Anlage für künftigen Profit. Rasant schnell ausverkaufte Konzerttickets, Kinofilme, mit Werbung vollgepackte Musikvideos, Devotionalien aller Art erwirtschaften Millionenbeträge – allein der Fiskus verdient daran 4 Milliarden US-Dollar pro Jahr.
Auf Instagram folgen der Band knapp 65 Millionen Anhänger, damit hat die Gruppe die meisten Follower auf der Plattform. BTS hat über 32 Millionen Alben verkauft, und das im Streamingzeitalter. Auf ihrer Asientournee besuchten 144000 Fans die Konzerte. Sogar UNICEF gab der Gruppe 2018 Gelegenheit, vor einer Vollversammlung eine Rede zu halten.

Die Fangemeinde ARMY
Getragen wird der Hype durch eine gut organisierte BTS-Fanblase, die sich ­ARMY nennt und auf gigantischen Streamingdiensten und Plattformen miteinander vernetzt ist. Als weltumspannender Fanclub steht ARMY (Ador­able Representative M.C for Youth) nach eigenem Verständnis für die freundlichste Armee der Welt, ist aber lediglich Teil eines cleveren Marktkonzepts. Die Gruppe vermittelt das Gefühl, dass man es gemeinsam schaffen kann, schwierige Lebenssituationen zu meistern.
Mit dem Motto »Love yourself« lässt sie das Gefühl entstehen, dass sich endlich jemand kümmert, Anteilnahme am eigenen Elend nimmt, Trost spendet. Dieses Konstrukt verstehen die Fans als eine Gewissheit, dass hier jemand mit ihnen in dauerhafter Verbindung steht und sie unterstützt, weswegen ARMY-Mitglieder sich einer großen, verschworenen, weltweiten Familie zugehörig fühlen.
ARMY stellt eine vollkommen neue Fankultur dar. ARMY kennt keine Konkurrenz, keinen Wettbewerb, bei dem es Verlierer gibt, ARMY ist ein »happy place«. Wer Nettes postet, bekommt nur Nettes zurück. Wer sich diesem BTS-Universum zugehörig fühlt, erlebt eine persönliche Adelung. Persönliche Erlebnisse und Empfindungen einzelner Bandmitglieder, die sich aber ausschließlich aus ihrer Musik ableiten und scheinbar mit ihrer Biografie zusammenhängen, werden von der Community aufgesogen. Auch tränenreiche Inszenierungen, die miteinander geteilt werden, gehören dazu.
Die symbiotische Verbindung der Fangemeinde mit ihren Stars ist die Basis des enormen Erfolgs. Was kann man gegen gutaussehende Jungen haben, die sich regelmäßig rücksichtsvoll, bescheiden, mitfühlend, dankbar und zurückhaltend darstellen?
Die Verträge, die die Agenturen mit den Idolen abschließen, beinhalten große Eingriffsrechte in ihr Privatleben. Skandale, Drogen, sogar Beziehungen sind absolut tabu, um die Illusion einer blitzblanken Projektionsfläche nicht zu beschädigen. Der freundliche und wertschätzende Umgang schafft eine fiktive Gegenwelt, die Millionen benötigen. Das Perfide ist die Verquickung authentischer Gefühlswelten mit einer konstruierten, falschen Wirklichkeit, die ehrlich und mitfühlend daherkommt, in Gang gesetzt von einem Medienmanagement, dessen Triebfeder letztlich die Geldvermehrung ist.

Das Elend im System
Schicksalsschläge, menschliche Niederlagen und seelische Verletzungen sind aber nicht nur individuelle Lebenserfahrungen, sie korrespondieren auch oft genug mit gesellschaftlichen Verhältnissen. Dass der weltweite Kapitalismus von Ausbeutung lebt, ist eine Binsenweisheit. Die Entfremdung der Produzenten von den Ergebnissen ihrer Arbeit, die Unmöglichkeit, auf Abläufe, Produktionsentscheidungen, Rahmenbedingungen und Hierarchi­en kollektiv Einfluss zu nehmen, ist ebenfalls unbestritten. Das Abhängigkeitsverhältnis, je nach Lage auf dem Arbeitsmarkt, schafft eine Vielzahl von menschlichen Verletzungen, die der Einzelne verarbeiten muss. Psy­chi­sche Erkrankungen, geringschätzende Behandlung bis hin zu respektlosem Verhalten, Beschimpfungen und Beleidigungen – alles das ist Teil der Arbeitswelt und wirkt bis in den Freizeitbereich.
Die Kaufmännische Krankenkasse (KKH) veröffentlicht alarmierende Zahlen, die auf eine drastische Zunahme von Fehlzeiten und Arbeitsunfähigkeit durch seelische Leiden im ersten Halbjahr 2023 hinweisen, eine Steigerung zum Vorjahr um 85 Prozent. Der Verlust eigener Handlungsfreiheit durch geforderte Verhaltensweisen, Rollen und Erwartungen in der Arbeitswelt sind Fremdbestimmung und formen rudimentäre Individuen und Subjekte, die durch Herrschaftsverhältnisse, Warenbeziehungen, Konkurrenz- und Leistungsprinzip bestimmt werden. Lebensbefindlichkeiten, die ein Gefühl von Ausgeliefertsein vermitteln und bis hin zu Passivität führen können, sind die emotionale Basis für ein großes gesellschaftliches Bedürfnis nach Wiedergutmachung. Verletzungen und Unbefriedigtes sind das Ergebnis gesellschaftlicher Zustände. Begriffen werden sie allerdings zu oft als ein rein individuelles Problem, mit dem sich der Einzelne allein gelassen fühlt – Ausgangspunkt dafür, ein erträgliches Leben und menschliche Verhältnisse zurückzugewinnen.
Genau hier setzt das Projekt BTS an und bietet eine Lösung durch den Aufbau einer psychologischen Abhängigkeits- und Machtbeziehung im Bereich der sozialen Reproduktion, und das weltweit. Das Ergebnis ist die Zweckentfremdung von Bedürfnissen, die sich zu Geld machen lassen. BTS ist eine besondere Form von Übergriffigkeit ins Private, eine neue Form der Ausbeutung durch psychologische Manipulation. Dieses Surrogat, wie massentauglich auch immer, ist ein untaugliches Narrativ und eine Sackgasse für seine User.
Menschliche Verhältnisse werden nur real, wenn Illusionen aufgegeben und abgeschüttelt werden und die wirklichen Verhältnisse in Angriff genommen werden. Opium für das Volk hilft dabei nicht.

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