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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 09/2022

Mitten im Krieg plant die Regierung einen Generalangriff auf die Arbeiterklasse
von Witalij Dudin

Der Krieg in der Ukraine hat nicht nur unmittelbar schreckliche Folgen, er richtet auch großen Schaden für die Rechte der Beschäftigten an. Es ist schmerzlich, dies zuzugeben, aber parallel zur Zerstörung der Wirtschaft und der Infrastruktur durch russische Bomben wird vor den Augen der Bevölkerung ein neues System der Beziehungen zwischen Lohnarbeit und Kapital entwickelt.

Durchgesetzt werden soll das neoliberale Projekt, das nach der Definition seiner Begründer den Willen der Unternehmer, insbesondere in Personalfragen, durch nichts eingeschränkt wissen will.

Der sozialistische Standard
Die Behörden verhehlen nicht, dass sie im Bereich der Beschäftigung systemische Schwierigkeiten haben. »Mit dem Beginn des Krieges kam die Aktivität auf dem Arbeitsmarkt praktisch zum Erliegen … Das Angebot an Arbeitskräften wird die Nachfrage weiterhin deutlich übersteigen«, heißt es im Inflationsbericht der Ukrainischen Nationalbank für Juli 2022. Der Krieg habe »einen noch nie dagewesenen Anstieg der Arbeitslosenquote« verursacht hat. Die Situation wird sich 2023 fortsetzen, wenn die Feindseligkeiten noch lange andauern. Es braucht eine unterwürfige und »entwaffnete« Arbeiterklasse, die dem Druck der Konzerne, von denen die profitabelsten den Oligarchen und transnationalen Unternehmen gehören, keinen Widerstand entgegensetzen kann. Klar ist jetzt schon, dass es im nächsten Jahr keinen Aufschwung geben wird.
Es mag überraschen, aber das Arbeitsgesetzbuch aus dem Jahr 1971 ist immer noch in Kraft. Wie Experten der Kiewer Hochschule für Wirtschaft 2009 schrieben, basiert es auf sozialistischen Rechtsgrundsätzen. Tatsächlich ist es eines der ältesten Gesetze dieser Art im europäischen Raum. Das Festhalten an diesem Gesetz unterscheidet die Ukraine von Russland, wo das Arbeitsgesetzbuch in den frühen 2000er Jahren durch ein neoliberaleres ersetzt wurde. Das ukrainische Arbeitsgesetzbuch aber wurde sukzessive den Realitäten der Wirtschaft angepasst und ermöglicht nach wie vor, den meisten Angriffen des Kapitals etwas entgegenzusetzen – etwa der Nichtzahlung von Löhnen, der Versetzung in Teilzeitarbeit und der illegalen Entlassung. Dennoch muss dieses Arbeitsgesetzbuch nach Ansicht ukrainischer Wissenschaftler verbessert und der Schutz der Beschäftigten als der schwächeren Partei in den Arbeitsbeziehungen verstärkt werden.

Die bereits erfolgten Verschlechterungen
All diese Pläne wurden jedoch durch den Krieg zunichte gemacht. Seit Beginn des Krieges wurden folgende Gesetze verabschiedet:

– Das Gesetz Nr.2136 über die Organisation der Arbeitsbeziehungen im Rahmen des Kriegsrechts.
Danach ist es zulässig, einem Beschäftigten vorübergehend das Gehalt zu entziehen, wenn sein Arbeitsvertrag ausgesetzt wurde; Entlassungen während des Urlaubs, bei Krankheit und ohne Zustimmung der Gewerkschaft sind zulässig; der Abschluss von befristeten Verträgen, die Gewährung von Urlaub und die Anwendung des Tarifvertrags liegen im Ermessen des Arbeitgebers.

– Das Gesetz Nr.2352 über Änderungen einiger Gesetze der Ukraine zur Optimierung der Arbeitsbeziehungen.
Beschäftigte, die zum Militärdienst einberufen werden, erhalten keine Lohnfortzahlung mehr; sie können innerhalb von zehn Tagen und ohne Zustimmung der Gewerkschaft entlassen werden, wenn das Unternehmenseigentum durch Feindseligkeiten beschädigt wurde.

– Das Gesetz Nr.2421 über die Änderung einiger Gesetze der Ukraine zur Regelung von Arbeitsverhältnissen mit nicht festgelegten Arbeitszeiten.
Der Unternehmer darf Arbeitsverträge ohne genaue Angabe der Arbeitszeit und ohne Garantie für eine unbefristete Beschäftigung abschließen (nur 10 Prozent der Belegschaft dürfen unter solchen Bedingungen arbeiten); der Lohn wird nicht regelmäßig gezahlt, sondern nur bei Erfüllung von Aufgaben auf Abruf; in solchen Verträgen können zusätzliche Kündigungsgründe angegeben werden.

– Das Gesetz Nr.2421 über die Änderung einiger Gesetze der Ukraine zur Regelung von Arbeitsverhältnissen mit nicht festgelegten Arbeitszeiten.
Der Unternehmer darf Arbeitsverträge ohne genaue Angabe der Arbeitszeit und ohne Garantie für eine unbefristete Beschäftigung abschließen (nur 10 Prozent der Belegschaft dürfen unter solchen Bedingungen arbeiten).

– Das Gesetz Nr.2434 über die Änderung einiger Gesetze der Ukraine zur Vereinfachung der Regelung der Arbeitsbeziehungen im Bereich des Klein- und Mittelunternehmen und zur Verringerung des Verwaltungsaufwands für Unternehmertätigkeit.
Für Kleinunternehmen (bis zu 250 Beschäftigte) wird eine Sonderregel eingeführt, nämlich die Möglichkeit, einen vereinfachten Arbeitsvertrag abzuschließen: Die Parteien können längeren unbezahlten Urlaub, zusätzliche Kündigungsgründe und Überstunden vereinbaren; der Unternehmer hat das Recht, den Beschäftigten ohne Grund zu entlassen, muss aber eine Entschädigung zahlen.

Einige dieser Gesetze (Nr.2136 und Nr.2434) sind für die Dauer des Krieges geplant, andere auf Dauer. Es wurde ein Regelwerk geschaffen, bei dem Unternehmer keinen Anreiz haben, die Sozialstandards zu verbessern. Sie brauchen keine Absprachen mehr mit den Gewerkschaften, das Gesetz ermöglicht ihnen, ohne jede Rücksprache zu handeln.

Die Schwäche der Arbeiterklasse
Hätten die Unternehmer all dies nicht auch schon früher gekonnt? Sie konnten es und taten es sogar oft, weil die Aufsichtsbehörden dabei ein Auge zudrückten. Aber wenn die Arbeiter dann mit Unterstützung der Gewerkschaften vor Gericht einen Sieg errangen, mussten sie zurückrudern. Und in 80 Prozent der Fälle standen die Gerichte auf der Seite der Arbeitenden. Zwar konnte der Unternehmer als die stärkere Partei eigentlich jeden entlassen, aber manchmal kam ihn das teuer zu stehen.
Das Justizsystem in der Ukraine unterschied sich qualitativ von dem in Russland, wo Richter seit Putin nicht mehr gegen die Regierung und das Großkapital vorgehen können. Seit Beginn des Krieges können jedoch auch die Gerichte in der Ukraine nicht mehr so effektiv arbeiten wie zuvor. Erstens haben sie in vielen Regionen aufgrund der russischen Besatzung ihre Arbeit eingestellt. Zweitens scheuen die Beschäftigten das Risiko, ihre ohnehin knappen Mittel für Prozesse auszugeben.
Diese Eingriffe erklären sich mit der Schwäche der organisierten Arbeiterklasse. Sie war auf ein Handeln unter Krisenbedingungen eindeutig nicht vorbereitet. Der gerechte Charakter des Krieges, den die Ukraine gegen die russischen Invasoren führt, erlaubt ihnen nicht, direkt gegen die Maßnahmen der Regierung zu protestieren.
Auch in der Ukraine tendieren Gewerkschaftsorganisationen zum Nurgewerkschaftertum. Sie sind kaum in der Lage, staatliche Institutionen herauszufordern. Das Problem liegt hier nicht in einzelnen fehlerhaften Gesetzen, das gesamte System beruht auf falschen Grundlagen. Im Rahmen des vorherrschenden Systems wiegen die Interessen der Arbeitgeber grundsätzlich viel mehr als die Interessen der Gesellschaft und sogar als die Siege der Ukraine.

Das neue Arbeitsgesetz
Mit der Verabschiedung dieser Gesetze wurden die schlimmsten Albträume von Gewerkschaftsaktivisten wahr. Doch das reicht den Kapitaleignern nicht. Die Unternehmen wollen uneingeschränkt und auf Dauer volle Handlungsfreiheit – nicht begrenzt auf einen bestimmten Zeitraum (Kriegsrecht), eine bestimmte Art von Unternehmen (weniger als 250 Beschäftigte) oder eine bestimmte Vertragsart (mit unbefristeten Arbeitszeiten). Deshalb hat das Ministerkabinett vor kurzem ein »Arbeitsgesetz« erarbeitet. Die gefährlichsten Neuerungen darin sind:
– die Möglichkeit, Arbeiter ohne Gehalt aus im Tarifvertrag genannten Gründen zu entlassen;
– sie wegen eines einmaligen »groben« Verstoßes gegen den Arbeitsvertrag zu entlassen;
– die Löhne ohne Begründung zu kürzen;
– die Zustimmung der Gewerkschaft zur Entlassung von Gewerkschaftsmitgliedern ist aufgehoben.
Im Gegensatz zum Arbeitsgesetzbuch enthält der vorgeschlagene Gesetzesentwurf keine Ausführungen zum Arbeitsschutz, Gewerkschaftsrechten, Leistungen für Jugendliche und Mütter. Er steht auch im Widerspruch zu früheren Plänen der Regierung, ein neues Arbeitsgesetzbuch auszuarbeiten.
Die Vertreter des Kapitals versuchen, die Lähmung der Arbeiterklasse auszunutzen. Es wird behauptet, die Arbeitenden würden kaum eine Verschlechterung spüren werden. Das ist falsch, denn die Mehrheit der Arbeitenden ist immer noch, trotz des irrsinnigen Ausmaßes der Schattenwirtschaft, offiziell beschäftigt und kommt in den Genuss der Arbeitsschutzbestimmungen.
Nach einer Erhebung des Interdisziplinären Forschungsinstituts »Krieg in der Ukraine« (Polen) arbeitet etwa ein Drittel der Flüchtlinge aus der Ferne, aber weiterhin im Rahmen ihres Arbeitsverhältnisses mit einem ukrainischen Unternehmen. Darüber hinaus hat der Krieg dazu geführt, dass Beschäftigte in so wichtigen Berufen wie Ärztin, Eisenbahner, Fahrerin und Reparaturarbeiter gute Möglichkeiten hatten, für bessere Arbeitsbedingungen zu kämpfen. Das neue Gesetz will diese Möglichkeiten einschränken und gibt den Unternehmern freie Hand, um jedes Aufbegehren zu unterbinden.

Nach dem Krieg
Im Krieg ist die Gesellschaft auf Sicherheit und Beschäftigung angewiesen. Die genannte »Reform« bietet jedoch das Gegenteil: Unsicherheit und Arbeitslosigkeit. Es bestätigt sich, dass die Hoffnung, die herrschende Klasse werde angesichts des Krieges und der europäischen Integrationspläne keinen Konflikt mit den Arbeitern vom Zaun brechen, auf Sand gebaut war. Es gibt nichts, was die Umsetzung der Politik im Interesse der Konzerne aufhalten könnte. Nichts außer der Arbeiterschaft, unterstützt durch internationale Solidarität! Die Arbeiterklasse in der Ukraine muss sich radikalisieren, denn das Recht wird sie immer weniger schützen. Der herrschenden Klasse ist völlig klar: Wenn die Ukraine dem Ansturm der russischen Invasoren standhält, werden Tausende von Arbeitern mit neuer Kraft an ihre Arbeitsplätze zurückkehren und Gerechtigkeit fordern.
Die Organisierung der Arbeitenden wird politischer denn je sein. Es geht darum, ihre Stellung insgesamt zu verbessern und alle Institutionen in den Dienst der Gesellschaft zu stellen.
Die Arbeitenden kämpfen heute um ihre verbleibenden Rechte und ihr Überleben. Um eine menschenwürdige Zukunft zu haben, müssen sie sich jedoch die Frage stellen: Sind sie bereit, weiter für die Oligarchen zu arbeiten? Es ist an der Zeit, die Wirtschaft auf einer anderen Grundlage zu reorganisieren, die Kontrolle über die Produktion zu vergesellschaften und die Gesellschaft zum letztendlichen Nutznießer der Arbeit zu machen. Leider sind nicht alle Arbeiter bereit, dabei mitzumachen. Doch genau darauf sollten wir unsere Bemühungen konzentrieren.

Der Autor ist Anwalt für Arbeitsrecht und Vorsitzender der linken Organisation Sozialnyj Ruch.

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